Im Sommer 2021 startete das Berliner Label Undogmatisch eine Trilogie an Compilations unter dem Titel “Magnum Opus Collectio Series”, die das Motiv alchemistischer Transformation zum Thema haben und im Medium experimenteller, meist elektronischer Musik und begleitendem Artwork der Künstlerin Valentina Bardazzi umsetzen. In ihrer Aufteilung folgen die drei Sammlungen den unterschiedlichsten Phasen des alchemistischen Prozesses, der auf die Materia Prima zurückgreift und an dessen Ende der Stein der Weisen entsteht. In der Hermetischen Tradition griff man auf dieses Phasenmodell zurück und beschrieb damit die persönliche spirituelle Transmutation des Menschen ebenso wie bestimmte Prozesse innerhalb künstlerischer Kreativität.
Auch in der modernen Psychologie griff man auf diese Modelle zurück, um die stufenweise Entwicklung der individuellen Person zu beschreiben, die wesentliche Stimme dabei ist C.G. Jung, der auch für das vorliegende Projekt einiges an Inspiration abgab. So heißt es im begleitenden Text: “These three phases also have been meant by Carl Gustav Jung as a model for the individuation process, an unrepeatable psychic process, which leads each individual to approach his ego with the self. In other words the individuation process is a progressive integration and unification of all shadows and complexes forming the personality within oneself”.
Der erste Teil trug vor zwei Jahren den Titel “Nigredo” und bezog sich auf das Bild des Schattens, das in der Archetypenlehre Jungs für das Element Erde, die Nacht, die Farbe Schwarz, Getrenntheit und Verfall und das primordiale Chaos steht. Im Individuationsmodell nach Jung steht Nigredo für einen Zustand, der als die dunkle Nacht der Seele bezeichnet wird – ein Stadium, in der sich der Einzelne seinem eigenen Schatten stellt: Er lernt eine ungewohnte, meist als negativ empfundene Kehrseite dessen kennen, das er zuvor vereinseitigend als seine Persönlichkeit empfunden hat, und enpfindet dies zunächst als so deprimierend wie den Einsturz eines Kartenhauses. Doch dieser Rückschlag ist der Ausgangspunkt zur Entstehung eines neuen, umfassenderen Selbst.
Eine ganze Reihe an Künstlern aus dem Umfeld des Labels und seiner Betreiber setzten dieses Stadium der Verdunklung jeglicher Selbstwahrnehmung seinerzeit ins Werk, und wenn es einen roten Faden gab, dass vielleicht den, dass in der Dunkelheit der einzelnen Soundscapes immer auch schon etwas Kraftvolles zu spüren war, dass auf den weiteren Verlauf hinwies oder zumindest so gehört werden konnte. Vielleicht lag es aber auch an dem “bodenständigen” Aspekt, der dem Element Erde innewohnt? Trotz der Vielzahl an teilehmenden Acts – Zen Lu, Andrea de Witt, Labelbetreiber Mirco Magnani, Vinyl-Terror und Horror, Lukasz Trzcinski, Ken Karter, Yakovlev, Dounis, Naga, Somnia Vera, Yajuj O Majuj, Klaas Hübner alias Smog – war in der feinsinnigen Kombinatorik aus Synthies, rituellen Glöckchen und anderen gesampleten Instrumenten, aus eruptiven Momenten, sprach- und Gesangsfragmenten sowie zahlreichen Effekten ein roter Faden erkennbar, der den konzeptuellen Charakter der Arbeit unterstreicht und das ganze über weite Strecken mehr wie ein Album als wie eine Anthologie anmuten ließ.
Im vorigen Jahr wurde das Projekt um einen zweiten Teil erweitert. Gemäß dem Thema der alchemistischen Transformation folgt auf die initiale Auseinanersetzung mit dem dunklen Element nun “Albedo”, das sich mit der Begegnung des Menschen mit seinem Animus bzw. seiner Anima und mit der Integration seiner Kehrseite oder seines Schattens in sein Selbstbild befasst – hier wird, symbolisiert durch die Verrschmelzung der weiblichen und männlichen Polarität die Integration genau der Elemente ins Selbstbild vollzogen, die zuvor als schockhaft und deprimierend erlebt wurden. “In the field of analytical psychology, Jung equates ‘Albedo’ with the revelation of the archetype of the anima in men, and of the animus in women”, heißt es in den Liner-Notes. “According to Jung, the subject, after having become aware of the negative aspects of his own Shadow, has learned not to project them outwards, but to constructively confront them, leaving the unconscious identification with the undifferentiated collective psyche, and withdrawing consciously, through reflection, in the process of self-identification. The albedo ultimately consists in the distillation of the ego from the unconscious”. Erneut ist das Album als Gemeinschaftsarbeit ähnlich gesinnter Musikerinnen und Musiker konzipiert, das Line-up – Bleedingblackwood, Mirco Magnani, Andrea de Witt, Seiji Morimoto, Gh⊕s††, Dinner Situation, Zen Lu, Ken Karter, High Fall, Mnnn, Contaminated Lifeforms, Robert Farrugia – überschneidet sich in Teilen mit dem Vorgänger.
Der jünst erschienene dritte Teil trägt den Untertitel “Rubedo” und widmet sich dem Abschluss des Individuationsprozesses. Der titelgebende Begriff transportiert eine starke Symbolik: “redness or iosis, associated with the element of fire, the philosopher’s mercury, cinnabar, coagulation, sunset, the meeting between the Sun and the Moon, the androgyne as a fusion of masculine and feminine, the rebis, the marriage between soul and spirit, the alchemical wedding, the philosopher’s stone, the symbol of the phoenix, Hermes, Mercury, the caduceus, Prometheus”. Auf dem mit dieser “roten” Symbolik markierten Höhepunkt des Individuationsprozesses verschmilzt das Ego mit dem Selbst, alle zuvor nach außen projizierten Elemente werden vollständig integriert und die Gegensätze werden vereint in einem Zustand der Liebe.
Wenn die Beiträge dieses dritten Teils, auf dem erneut einige Acts der Vorgänger beteiligt sind, etwas sehr deutlich verbindet, dann ist es neben einem Schwerpunkt auf dunklen, repetitiven Synthesizer-Strukturen ein fast immer deutlich spürbares Narrativ, das wie eine Reise in etwas Unbekanntes anmutet oder eine durch eine solche Reise symbolisierbare Transformation nachvollzieht. Mit propellernden Synthies, einem elektrifizierten Pianomotiv und polyrhythmischen Ansätzen entsteht in “Deus Absconditus” von Retina.it das Paradox eines hypnotischen Durcheinanders. Eine ähnlich unberechenbare klavierunterlegte Ambientspur wird bei Nikolas Klau zum Omen einer gewaltig lärmenden klanglichen Verwandlung. Weitaus friedvoller gestaltet sich das smooth geerdete Saxophon- und Elektronik-Duett von Luc van Lieshout und Mirco Magnani, doch auch hier dringt das Mysterium recht bald an die Oberfläche. Zen Lu kombinieren Piano, Sinustöne und verspielte Elektronik, die trotz ihres dezenten Charakters kein Wegdösen zulässt. Bei Orquestrina Utu bricht ein aufgewühltes Keuchen in die Schwere einer fast liturgischs klingenden, orgelartigen Klangwelt.
Ab der Mitte der Sammlung werden die Soundscapes zum Teil länger, so bei Lukas Cane und Tsuki bei ihrer abenteuerlich hörspielartigen Reise in die Welt der Verschmelzung. Eine andere Art der Verschmolzenheit deutet der Titel “Collective Subconscious” an, unter dem Aur_A-010 auf ethnorituelle Erkundungsfahrt gehen. Im Duett mit Andrea de Witt schickt einmal mehr Magnani urige Melodiebögen über ein Gerüst grooviger Takte, während undeutliche Stimmen irgendwo aus der Tiefe empordringen. Eventuell zeichnet de Witt hier für die rhythmische Seite verantwortlich, denn in seinem Solobeitrag weiß er solche gekonnt gegen verschiedene Störfaktoren zu behaupten. Die vielleicht spannungsvollsten Momente finden sich in der von erratischen Rhythmen und exzessivem Rauschen dominierten Elektronik von Ken Karter.
In den hinteren Abschnitten der Sammlung finden sich auch vermehrt Stücke, bei denen akustische Sounds stärker zum Einsatz kommen. Dazu zählt allem voran das von der orientalisierenden Melodie einer Klarinette getragene “Blood Phoenix Rose King” von Zustand D. Auch der Beitrag von Gh⊕s†† enthält solche Details, doch hier ist die wie aus dem inneren eines gewaltigen Körpers dringende Klarinette in das veränderliche, zum Teil lärmende und rumpelnde Narrativ einer schweren Geburt gebettet. Mit sanftem Saitenpicking und verhallten Kinderstimmen, die das ganze (auch) wie der eine Neugeburt anmuten lassen, beschließt Fallen die Sammlung mit einem geerdeten Ambientstück.
Ein derart komplexes – und in seiner Beschreibungsmöglichkeit immer auch abstrakt bleibendes – Konzept wie die alchemistische Transformation im Medium Musik und Kunst umzusetzen, ist ein Unterfangen, das zwangsläufig Fragen aufwirft. Wenn die Musik den transformierenden Prozess quasi mimentisch abbildet, welches sind die Analogien? Wie kommt es, dass dieser dunkle Clubsound sich so dafür eignet und ist es Zufall, dass so oft auf Klarinetten zurückgegriffen wurde? Wurde das alchemistische Konzept auch bei der Komposition der enthaltenen Stücke besonders bewusst angewendet, und wenn ja, in welchen Details zeichnet sich das besonders ab? Ich möchte es hier bei diesen Fragen belassen und sie auch nicht beantworten. Dass die zahlreichen Beiträge über drei Releases hinweg einen reizvollen Einstieg in die dahinter liegenden Konzepte gewähren, steht aber schon mal außer Frage (U.S.)
Label: Undogmatisch