Ô PARADIS: Mârs

In den vielen Jahren, die seit der Gründung von Ô Paradis vergangen sind, ist das von Demian Recio ins Leben gerufene und mit immer wieder wechselnden Gästen betriebene Projekt längst zu so etwas wie einer festen Institution geworden, ich verglich es bereits mit einem Haus, das immer mal seine Einrichtung wechselt und neue Untermieter einziehen lässt und doch in der Bausubstanz unverkennbar bleibt. Musiker kommen und gehen, Projekte werden gegründet und wieder aufgelöst, musikalische Trends entstehen, verschmelzen miteinander, verändern sich und lösen sich wieder in Luft auf. Ô Paradis besteht immer noch, und bei all dem ist in den vergangenen fast drei Jahrzehnten kaum Langeweile aufgekommen.

Auch über die Veränderungen, die sich im Laufe von Recios Karriere sukzessive vollzogen haben, habe ich in vergangenen Besprechungen einiges gesagt. Allgemein kann man sagen, dass seine Musik, bei der poppige, folkige und gerne als Avantgarde bezeichnete Strukturen verknüpft und wieder halb zerlegt werden, auch im Rahmen eines einzigen Albums so vielschichtig ist, dass sich die meisten Veränderungsschritte eher auf der Ebene einzelner Details vollziehen. Auch auf “Mars”, dem aktuellen Album, das unter dem Eindruck der letzten Jahre, in denen eine Pandemie und mindestens ein Krieg begonnen haben, entstanden ist, gibt es Neuerungen. So sind – es mag seltsam klingen – erstmals Rockstrukturen deutlich zu hören. Auch gibt es zum ersten Mal einen Song, den man mit Neofolk in Verbindung bringen kann. Ich weiß, dass viele das Projekt schon immer in der Nähe dieses Genrekonstruktes verortet haben, aber für mich war das immer Blödsinn, geboren aus der Begriffsverlegenheit bestimmter Communuties.

Demians Musik klingt immer wie in einer Hexenküche entstanden, und so beginnt auch “Mars” mit einem erwartungsvollen Köcheln und Brodeln. Es klingelt und scheppert, eine sanfte Gitarre erklingt und irgendwann hört man Demians Stimme, die wie durch einen Telefonhörer oder eine kleine Box zu uns dringt. Wir landen in der Ô Paradis-Welt, die eine ganz eigene Dimension für sich reklamiert. In der scheint auch im ersten Songgebilde “Senderos de Gloria” zunächst alles beim alten: Ein hochtönender Orchestralloop verbreitet sich im Raum wie der Duft einer eleganten Orangerie, irgendwann donnert es und Demian singt eine leidenschaftlich sehnsuchtsvolle Melodie, während sich darunter ein leicht derangierter Takt abzeichnet. Etwas, das an ein leicht postpunkiges Bassknarren erinnert, fällt auf, als sei es aus einem anderen Ort in die Szenerie katapultiert worden. Aus genau diesen kristallisiert sich schnell ein Arrangement, das deutliche Züge von Midtempo-Rock hat, der viel zum krachigen Charakter des Songs beiträgt – ein bisher ungewöhnlichr Zug und doch hundert Prozent Ô Paradis, bei denen stets viele populäre Details verwendet und durch einen experimentellen Aspekt im Zaum gehalten werden. Vielleicht besteht dieser im Grunde nur in einer gewissen Nachlässigkeit, in einem bewussten Wunsch, das ganze Fragment bleiben zu lassen?

Man kann bei Ô Paradis immer wieder den Eindruck bekommen, dass sich die ganzen technischen Finessen mehr zufällig ergeben und in eine gut funktionierende Form fließen, ohne dass von Seiten des Musikers oder der Musiker allzu viele Überlegungen dazu gemacht werden. Deswegen sollte man ihnen, so interessant und ungewöhnlich sie sind, auch nicht die allererste Aufmerksamkeit widmen. Gefühl und Gestimmtheit erscheinen mir da viel zentraler. “Marcha concéntrica” ist ein runder Song, auch wenn er v.a. durch sein schwer greifbares emotionales Gemisch beeindruckt, bei dem Gelöstheit und Traurigkeit keine Gegensätze sind. Hier tritt Gastmusikerin Sara Guri Casallachs in Erscheinung, die Backing Vocals und irgendwo am Firmament Striche auf der Viola da Gamba beiträgt. Ein ähnlich ungreifbares Gefühlsgemisch prägt das dunklere und maskulinere “Líneas enemigas”, dessen Gesangstempo ebensowenig zu dem hintergründigen Kraxelrhythmus passen dürfte wie das bedrohliche Pfeifen. “Como un avión” ist das merkwürdigste Stück des Albums, denn mit seiner Schrammelgitarre, mit Demians warmem und zugleich etwas distanziertem Gesang und den gehauchten Backing Vocals fast eine Travestie der typischsten Neofolkband der Welt sein könnte. Wenn es so ist, dann wird diese Travestie aber schnell durch die kratzenden und knarrenden Sounds und noch mehr durch die Schönheit des Stücks geschreddert.

Nachdem der Song wie in einer Bruchlandung endet, wirkt der wehmütige Gesang im von seltsamem Saitenspiel getragenen “Lo que el horizonte esconde” wie ein geisterhafter Chor der Nachwelt. In seiner etwas zögerlichen Sanftheit ist der Song so etwas wie das retardierende Moment, bevor im Schlussteil – im rasseligen “Pan y circo”, dessen Melodie schon in den ersten dröhnenden Akkorden enthalten ist, und mehr noch im Outro “Prisioneros” mit euphorisch-melancholischen Steichern und Gerumpel und Gekratze – noch mal einiges verhandelt wird. 

Zu weiten Teilen des verhandelten Materials kann hier wenig gesagt werden – ob die Sprachbilder des Krieges und der Krankheit hier vielleicht als Metaphern für das Leben, die Liebe und das Numinose gebraucht werden, zu all dem kann ein Rezensent, der vielleicht zehn bis zwanzig Prozent der Texte halbwegs verstehen kann, wenig beitragen. Doch mit oder ohne Sprachbarriere ist die Lebendigkeit und Reichhaltigkeit der Musik in jeder Minute spürbar. (U.S.)