In gewisser Hinsicht hat “Orchid Seed” etwas von einem Nachruf, auch wenn es sich meiner Kenntnis entzieht, ob einige der realen Personen, die Thema dieses Albums sind, noch leben. Es hat etwas vom Nachruf auf eine Familie, deren Mitglieder heute in alle Winde zerstreut sind – repräsentiert durch fünf weibliche Mitglieder und ihre ungewöhnlichen Lebensgeschichten.
She Spread Sorrow ist das Soloprojekt der auch als Yogalehrerin aktiven italienischen Musikerin Alice Kundalini und zählt seit einigen Jahren zu den häufiggenannten jüngeren Projekten im weiteren Feld der Spätformen des Industrial. Dass ihre Musik nicht ganz so penetrant gehypt wird, könnte unter anderem auch daran liegen, dass Ihrer Musik und den Konzepten ihrer Alben trotz sehr persönlich gefärbter Themen das Moment der plakativen Personality Show fehlt.
“Orchid Seed” enthält kein im engeren Sinne neues Material, doch die erste Veröffentlichung vor vier Jahren im Rahmen einer strengen limitierten Holzbox mit zehn Tapes (ebenfalls darauf vertreten waren u.a. Kleistwahr, Alice Kemp und Francisco Meirino) ist lange vergriffen. Nun erscheint das Album erstmals überhaupt auf Vinyl.
In den fünf Stücken rezitiert die Künstlerin eindringliche Charakterstudien mit rauer Flüsterstimme und in betont schmuckloser Prosa vor der Kulisse einer düsteten analogen Elektronik, deren Fundament desolates Rauschen ist. In diesen Szenarien entwirft sie z.T. beklemmende Porträts, in denen man von weltabgewandter Eremitage in den großen Räumen erinnerungsbelasteter Häuser erfährt, die zum Schauplatz verwünschter Psychodramen taugen würden, von der Krankheit der Einsamkeit und der Flucht in die Fantasie, in der ein imaginärer Glamour ebenfalls in Einsamkeit mündet. Von harter Arbeit zudem und der Anbiguität der Schuld. Aber auch von für lange Zeit erfolgreichen Bemühungen, aus den Begrenzungen einer heute fremd anmutenden Zeit auszubrechen. Es mag dem kulturellen Blick von außen geschuldet sein, dass dem Rezensenten die Erzählungen über Familien und Orte auch sehr italienisch erscheinen. Bisweilen scheinen Szenen imaginärer Filmdramen aus der Ära von Lina Wertmüller oder Pupi Avati vor dem geistigen Auge aufzupoppen, doch diese hier wären um einiges dunkler getönt.
Gerahmt in Soundwelten, deren Beginn und Schluss an elektrifizierte Zikaden vor rauchigem Rauschen erinnert, erfahren die Geschichten eindrückliche klangliche Illustrationen. Das können klare, dezente Soundkulissen sein, die sich irgendwann hinter den Worten beängstigend intensivieren und an einen Knoten erinnern, der sich immer enger zuzieht. Oder sonnengeblendetes Flirren, in das zunächst minimale Hochtöner wie die titelgebenden Stars aufflackern, bis wellenförmige Synthes wie unerhörte Begebenheiten den vorderen Bühnenrand für sich einnehmen. Ebenso düsteres analoges Brummen, rhythmisch getaktete dunkle Dröhnung und futuristisch anmutende SciFi-Sound, die einem veritablen Angstpop-Stück locker zu Ehre reichen würden. Ein gewisses Downtempo wird bei all dem aber immer gewahrt.
Und stets spürt man die Größe in all den krummen und zum Teil traurigen Biografien, den Schicksalen, die sich in so vielen Häusern und Familien ereignen, den freiwillig oder unfreiwillig eingeschlagenen Wegen und Irrwegen, bei denen erst die Nachwelt weiß, wohin sie einmal führen sollten, und die trotz der sprachlichen Präsenz letztlich v.a. durch die Atmosphäre von Worten, Stimme und Klang erzählt werden. Wie um zu zeigen, dass all diese Leben niemals vollends vergegenwärtigt werden können, lässt She Spread Sorrow ihre Worte manchmal fast hinter den Soundschichten in der Unverständlichkeit verschwinden. In all ihrer unverblümten Sachlichkeit sind die Stücke berührende kleine Monumente. (U.S.)
Label: The Helen Scarsdale Agency