TABERNACLE: II

Warum betitelt jemand sein Albumdebüt nach er römischen Ziffer II? Vielleicht weil die darin enthaltenen Songs – zumindest die, die der Verfasser dieser Zeilen kennt – hier alle ein neues Leben eingehaucht bekommen, und genau das war ja auch von Beginn an Programm der kalifornische Band Tabernacle um die Folksolisten Walker Phillips und Caira Paravel, die mit tatkräftiger Unterstützung von Camilla Saufley am Bass und Adam Weaver am Schlagzeug klassische englische Folkballaden in eine laute, wuchtig-doomige und nicht selten schmutzige Space Rock-Existenz überführen: “Traditional ballads of the British Isles, played loud and heavy”, wie es in den Worten der Band heißt.

Das nach einer Reihe an kleineren Veröffentlichungen und mit Begeisterung aufgenommenen Konzerten nun digital erschienene Album eröffnet mit einer hartgekochten, doomigen Version des Traditionals „Let No Man Steal Your Thyme“, einer Ballade, die junge Frauen vor dem Verlust ihrer Unschuld an verführerische Ganoven warnt – hier dröhnt der Song mit verzerrten Riffs und jaulenden Gitarrensoli, bevor Paravels klare, helle Stimme einsetzt und dem Track eine fast geisterhafte Note gibt. Die Interpretation channel freilich klassische Versionen wie die von Pentangle aus den späten 60ern, setzt jedoch mit einer unüberhörbaren Schwere einen ganz eigenen Akzent. In “Grüner Ritter – wohl eine instrumentale Referenz an die mittelalterliche Legende von Sir Gawain and the Green Knight und, so ehrlich muss ich sein, im Original nicht bekannt – erschafft die Band ein sphärisches Szenario. Der groovige Einstieg lässt ein bisschen an Adam Weavers Damma Damma-Projekt denken, geht jedoch schnell in den unverkennbaren Sound von Tabernacle über – eine galaktische Tour de Force, das spacige Äquivalent zur Wilden Jagd.

Mit “Who Killed Cock Robin?” liefern sie eine aller stonerhaften Schwere zum Trotz entrückte, beinahe außerweltliche Interpretation des bekannten Nursery Rhymes. Der Song nimmt den Hörer auf eine Berg-und-Talfahrt, die live bereits im WDR-Rockpalast zu sehen war und die Energie der Bühne direkt ins Studio zu übertragen scheint. “Atomgarten”, ein weiteres obskures Enigma mit deutschem Titel und nicht das letzte auf dem Album, entfaltet ein hypnotisches Spiel mit dröhnenden Uptempo-Riffs, Trommelwirbeln und flirrenden Synthies – ein instrumentaler Ausflug in ein Reich pulsierender Rhythmen. “Four Loom Weaver”, eine Ballade über Hunger und Armut aus dem England des 19. Jahrhunderts und in den späten 50ern prominent von Ewan McColl interpetiert, besticht durch ein eindringliches Duett von Caira und Walker, das der Verzweiflung und dem Schmerz des Textes etwas beinahe Tröstliches zur Seite stellt.

Das kurze Interludium “Zsch” entfaltet eine perkussive, lärmige Szene, in der die Instrumente fast schon onomatopoetisch den Titel nachzuahmen scheinen. Das folgende “Alison Gross” erzählt die düstere Geschichte der “hässlichsten Hexe des Nordlandes”, die einen Mann in eine unheimliche Kreatur verwandelt, weil der ihre Avancen verschmäht. Die düstere, schleppende und gleichzeitig mitreißende Version Tabernacles kehren auch musikalisch eine abgründige Seite hervor, die in Steeleye Spans klassischer Version bereits latent spürbar war. Mit “Earl Richard”, das auf fließenden, mit Setar-Klängen angereichrten Akustikgitarrenornamenten basiert, wird es folkiger, Paravels Gesang schwebt lieblich über der Melodie, und der Song entfaltet eine anmutige Atmosphäre, die an die Version von Tim Hart und Maddy Prior erinnert, zugleich aber von der Schwere durchdrungen ist, die in einer fiktiven Welt vielleicht jemand wie Rose MacDowall dem Song gegeben hätte.

“Dinge von der Messe” könnte damit nicht stärker kontrastieren und präsentiert ein verstörendes Klangbild, das mit hämmerndem Rattern und breiigen Gitarren ein düsteres Soundgemälde voller Stakkato-Rhythmen und rauem Freakout entstehen lässt. Am Ende durchzieht ein nostalgischer Synthieklang die Szenerie und bietet so die Möglichkeit eines etwas leichteren Nachklangs. “Son David” berührt durch eine melodische Intensität, die durch Pathos und kleine Tempowechsel dramatisch verstärkt wird. Die traditionelle Ballade über einen blutigen Familienzwist wirkt hier wie ein Monolog, der aus der Tiefe hervordringt und und einen mehr und mehr in genau diese Tiefe zieht.

Abschließend entführt “Aus” in ein schmutzig verzerrtes, hörspielartiges Tableau, das am Ende für einen kurzen Moment noch einmal einen Hauch von Melodie durchschimmern lässt – ein perfekter Abschluss für eine musikalische Reise durch allerlei archaische Geschichten, die in ganz ungewohnten Klangfarben aufleben und somit im vielleicht lebendigsten Sinne bewahrt werden.

Label: God’s Eye Records