Jeder, der einmal sein Zuhause – sein Land oder seine Stadt – für längere Zeit verlassen hat, wird wohl beim Zurückkehren einige der am wenigsten erwarteten Veränderungen festgestellt haben, während andere Dinge unerwartet gleich geblieben sind. Zwar beginnt “Stuttered Music”, das neue Album der libanesischen Klang- und Marionettenkünstlerin Yara Asmar, mit spacig pfeifenden Hochtönern, als erstes fällt aber zumindest in der digitalen Version ein beigefügtes Prosagedicht ins Auge, das wie ein Brief an eine abwesende Person den Zustand und die Stimmung in einer Stadt beschreibt und alles, was sich nach dem Weggang des angesprochenen Gegenübers verändert hat: “Es gibt ein neues Theater, größer als das alte. In der Bibliothek hängen deine zwei Hüte, und die Kaffeemaschine brüht weiter Kaffee (wenn es Strom gibt), und die Leute trinken ihn immer noch”. In das alltägliche Szenario bricht aber recht unverhofft auch ein Moment der Zerstörung: “Ein Paar hatte seinen ersten Kuss im Jesuiten-Garten, und jetzt ist dort ein Parkplatz, wo vor ein paar Jahren das Gebäude einstürzte”. So wie Asmars Musik, in der Hauptsache basierend auf Akkordeon, Metallophonen und dezenter Elektronik, eine Musik der feinen Andeutungen ist, die gerne mit den an kleine narrative Miniaturen erinnernden Songtiteln interessante Fragen aufwirft, könnte man sich schon auf dieser paramusikalischen Ebene in eigene Geschichten ziehen lassen, in der die Stadt, der Sprecher und der Adressat vage Konturen bekommen. “Man könnte meinen, die Stadt würde weniger sein, seit du gegangen bist, aber sie ist mehr von dem, was sie war, und vielleicht sogar zu viel davon”. Eines der wichtigsten Wörter hier ist – vielleicht – das Wort vielleicht, denn Asmars Musik und ihre Albenkonzepte zwingen uns nie etwas auf, lassen narrative Entwürfe im Geist des Publikums entstehen und vergehen.
Setzt die Musikerin, die tief in der experimentellen Musikszene Beiruts verwurzelt ist, sich in den vergangenen Jahren aber auch ein immer größeres internationales Renommee erspielt hat, mit ihren nicht selten leisen, gefühlvollen Klängen ihrer “Eulogies for accordion, metallophone & electronics” ein musikalisches Denkmal für ihre Stadt, die sich immer weiter wandelt und doch in ihrem Kern unverändert bleibt? Es hieße die Offenheit des Werks zerstören, würde man die Frage eindeutig beantworten, und in der darin wohnenden Weite liegt die besondere Stärke der sieben Tracks. Der Eröffnungstrack “To live by a body of water is to forget it exists” führt uns mit flirrenden Hochtönen in eine Welt, die zugleich fremd und vertraut wirkt, erinnernd an einen schwelenden Urwald oder eine extraterrestrische Landschaft. Das dunkle Knarren und sanfte Brummen darunter, das sich mit metallischem Rattern und Saitenzupfen (?) vermischt, erzeugt eine atmosphärische Schicht, die bereits das noch Folgende emotional auflädt.
“In fields of translucent pearls i am the richest man in the graveyard and i will never have to bury anyone i love ever again” entfaltet die Klänge des Akkordeons in strömenden, warmen Wellen. Eine Melodie, zunächst verborgen, kristallisiert sich allmählich heraus, wird intensiver, energischer und verliert in einem kurzen Moment des dramatischen Aufbäumens seine sanfte Wärme – eine subtile Transformation, die an eine unaufhaltsame, oft schmerzhafte Veränderung erinnert, die in allen Phänomenen, seinen es Orte oder Personen, immer wieder spürbar ist, wenn man ihnen nur die entsprechende Aufmerksamkeit gibt. Es folgt das fast filmische “cold feet and hot air balloons”, das so etwas wie die ferne Erinnerung an einen kindlichen jahrmarktsbesuch oder ähnliches evozieren könnte erinnert, eingehüllt in eine sepiafarbene Melancholie. Über den knapp zehn Minuten wechseln sich Akkordeonmelodien mit dunklem Grollen und kleinen, lichten Momenten ab, die in eine intime, fast nostalgische Sphere entführen. Mit “May” legt Asmar das Arrangement minimalistisch an. Ein hohes Fiepen, fast singend, wird von leichten metallophonen Tupfern begleitet. Das Stück bleibt subtil, nur gegen Ende sorgt ein geheimnisvolles Rasseln und Klappern für rituell eingefärbte Bewegungen, die einen Hauch von Dramatik in die Komposition bringen. “all that has been seen will have been seen for nothing” ist ein Stück voller verwobener Klangschichten, die sich wie impressionistische Pinselstriche übereinanderlegen. Das Akkordeon bringt Wärme ins Zentrum, doch der Track schwebt zwischen Trost und Unsicherheit. Asmars feinsinniges Spiel mit Klangfarben und Schichten verleiht dem Track Tiefe, in der melancholische und dissonante Töne miteinander ringen. In “i am a terrible mathematician (and an even worse clown)” lässt das Akkordeon eine beinahe heimelige Atmosphäre entstehen, kombiniert mit dezenten elektronischen Akzenten. Die warme Fülle des Tracks hat eine leichte, heitere Note und erinnert an manchen Stellen fast an einen Chor, aber das ist vielleicht auch nur eine Illusion, die sich beim Hören ergeben könnte.
Der finale Track, “there are easier ways to disappear (but i’m only good at this one)”, klingt mit glockenartigen Tönen und leisem Hintergrundrauschen aus, bevor eine sanfte Melodie die Szenerie wieder deutlicher belebt. Die metallenen Klänge verleihen der Komposition eine ritualhafte Qualität, die sich in der zweiten Hälfte zu einem faszinierenden, fast tranceartigen Finale steigert. Hat man nun am Ende der Reise das Gefühl, in einer Szenerie zwischen Abwesenheit und Präsenz zu schweben, die Veränderungen erinnern, die zwischen den Ruinen und Neubauten stattfinden, so ist nicht leicht zu sagen, ob dieser Eindruck primär der Musik, oder ihrem Zusammenwirken mit den eingangs zitierten Worten des Gedichts erwachsen sind. Und einmal mehr ist es gut, dass es darauf keine eindeutige Antwort gibt, denn die viel wichtigere Antwort liegt in der emotionalen und ästhetischen Reichhaltigkeit, die einem “Stuttered Music” schenkt.
Label: Ruptured