Es gibt wohl kaum einen NURSE WITH WOUND-Fan, der zum letztjährigen Album „Huffin’ Rag Blues“ keine Meinung gehabt hätte. Viele begrüßten die opulente Gestalt der zum Teil sehr songorientierten Lounge- und Electronica-Stücke, die mit immer noch ausreichend surrealen Gurgelsounds und Tierstimmen aufwarteten, um als lupenreine NWW-Fabrikate durchzugehen. Viele erfreuten sich an den zahlreichen Gesangsbeiträgen von Leuten wie MATT WALDRON (IRR APP (EXT.)) oder von Sängerinnen wie FREIDA ABTAN und LYNN JACKSON, die entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten devote Liebeslyrik in ohrwurmtaugliche Songs packten.
Andere fanden das wiederum zu glatt und verwiesen auf die subtilere Umsetzung solcher Motive auf früheren Werken wie “The Sylvie and Babs Hi-Fi Companion”. Sahen in Waldrons mephistophelischer Busfahrt „Black Teeth“ bloß eine NICK CAVE- oder TOM WAITS-Parodie und ließen sich auch von den experimentelleren Stücken nicht so recht überzeugen. Normalerweise neige ich dazu, Dinge, die man der öffentlichen Meinung nach entweder lieben oder hassen soll, schon aus Protest schlicht ganz nett zu finden. Im Falle von „Huffin“ war ich jedoch von Beginn an auf der Seite der Begeisterten – vielleicht, weil ich nie daran gezweifelt hatte, dass STEVEN STAPLETON und seine Freunde auch in Zukunft wieder so ungewöhnliche und verstörende Erzeugnisse hervorbringen werden, wie das Drone „Salt Marie Celeste“, das mit wenigen Kunstgriffen die komplexe Geschichte eines sinkenden Schiffes erzählt und in all seiner Statik die Opulenz einer Rocky Horror Picture Show hat. Statt des seit Ewigkeiten angekündigten Hiphop-Albums mit den wohl weniger devoten Rapperinnen setzen Stapleton, ANDREW LILES und eine handvoll Gäste, deren Prominentester wohl DAVID TIBET sein dürfte, auf dem neuen Silberling einen altbekannten Kurs fort. Das heiß zunächst, dass „The Surveillance Lounge“ nicht unbedingt nach „Huffin“ klingt. Stapleton wäre kein guter Surrealist, wenn er nicht in Magritte- und Dali-Manier einen Titel gewählt hätte, der wenig über den Inhalt des Werks aussagt, und so bietet der Überwachungssalon statt Loungemusik vier lange, kratzige Soundkollagen, deren Klang streckenweise an frühe Aufnahmen wie NWWs Quasidebüt „Homotopy to Marie“ erinnert. Mit anderen Worten: Im aktuellen Klangbild dominiert der atonale Strudel der Geräusche, weshalb „The Surveillance Lounge“ auch, wenn Vergleiche zum neueren Werk angebracht sind, eher noch an Liles’ Kollaboration mit DIANA ROGERSON anknüpft. Zu den Hintergründen: Vor circa zwei Jahren wurden NWW von der Friedrich Wilhelm Murnau-Stiftung eingeladen, bei einer Pariser Aufführung von Murnaus lange verschollenem Stummfilm „Der Brennende Acker“ (1922) den Soundtrack zu performen. Die Band sagte zu, und das dort entstandene Material bildete später den Ausgangspunkt des vorliegenden Albums.
Der Opener „Close To You“ beginnt zunächst recht brav, beinahe wie ein Stück Klavierambient. Was „stört“, ist gleich der erste Vokalbeitrag, nämlich eine auf Deutsch geflüsterte Abfuhr von einer Frau, die anscheinend die Nase voll hat und wenig Spaß versteht. NWW hatten seit jeher die Angewohnheit, Tonträger durch wiederkehrende oder eben sehr gegensätzliche Motive aufeinander antworten zu lassen und sie somit – je nach Sichtweise – gegenseitig zu ergänzen oder ad absurdum zu führen. Die von der Nürnbergerin NADJA BELABIDI intonierte Abkanzelung ist jedenfalls auch die Kehrseite zu den Liedern auf dem Vorgängeralbum, denn sie mutet eher resolut als devot an und ist in ihrer abstrakten Gestalt ungefähr das Gegenteil von einem schönen Song. Wem auch immer die skurrile Standpauke gilt, er sollte jedenfalls den geflüsterten Rat beherzigen und die Tür von außen zumachen. Der Titel wirkt ironisch und doch passend, denn hier scheint es (immer im Hinterkopf, dass Bedeutungen im NWW-Kosmos nur vage in der Luft hängen) tatsächlich um eine beklemmende Nähe zu gehen, eine Nähe als Hölle. Passend dazu entwickelt sich auch der Sound schon nach kurzer Zeit in eine viel weniger angenehme Richtung: Dunkles, beängstigendes Dröhnen verdichtet sich und zwängt sich ins Ohr, dazu Nadjas gemeines Flüstern. Schritte nähern sich, wie um die bedrohliche Stimmung noch zu verstärken. Altbekannte, aber immer noch effektive Zutaten für eine dunkle Stimmung, die weitab von Klischees „düsterer“ Musik stehen. Zwischendrin kommt auch „Schönklingendes“ zum Zug, wenngleich in stets derangierter Form: Da begegnen einem fast rockige Verzerrungen, dann zehn Sekunden eines viel versprechenden Easy Listening–Exkurses, am Ende eine von Schellack gesampelte Sopranistin. Mit anderen Worten alles, was man von einer guten, klassischen NWW-Platte erwarten darf. Schon nach wenigen Minuten findet man sich inmitten eines beklemmenden „elektro-akustischen“ Hörspiels wieder, das wohl wesentlich verrückter ist als der Film, der dem Ganzen zur Inspiration diente.
Der mit dem Opener eingeschlagene Kurs wird beibehalten. Bei „The Golden Age Of Telekinesis“ rufen kurze ekstatische Perkussionseinlagen Stapletons Einflüsse aus dem Krautrock in Erinnerung. Ein Gemisch aus Rasseln und seltsam manipulierter Stimmarbeit sorgt weiterhin für eine bedrückende Atmosphäre. Eine Lautsprecherdurchsage erklingt irgendwo in der Ferne, Papier wird zerfetzt – überall regiert das Unverständliche, Destruktive. Mit der Zeit wird das Stück dann lauter, intensiver und rhythmischer. Eingeleitet von unverständlichen Schreien steigert es sich zu einem geradlinigen, fast technoiden Rhythmus, der Hörer tanzt im Zeitraffer mit Aufziehpuppen, bis alles in einem kurzen Noise-Loop kulminiert. Gerade an dieser Stelle, an der Verzerrung und Schnelligkeit Hand in Hand gehen, fällt auf, wie gerne Stapleton und Liles neuerdings mit Electronica-Klischees spielen – auch diese Vorliebe für das ironische Recyceln von Stilelementen knüpft ja, wenn auch in ganz anderer Form, an das letztjährige Album an. „The Part Of Me Which Is That Part In You Is Now Dead“ stellt mit seinem von dämonischem Flüstern begleiteten flächigen Drone den ruhigsten und vielleicht subtilsten Teil des Ganzen dar. Bei dem abschließenden „Yon Assassin Is My Equal“, welches die extremsten Lärmpassagen enthält, schließt sich der Kreis. Nadja lässt es wieder krachen, indem sie noch einmal die Abfuhr wiederholt, die in jedem anderen Kontext eine belanglose alltägliche Beziehungskiste wäre, im NWW-Zusammenhang aber wie eine weitere absurde Kuriosität wirkt. Hier ist dann auch David Tibet sicher zu erkennen, der vielleicht schon für den einen oder anderen Schrei zuständig war. Allerdings darf man an der Stelle kein „Two Shaves And A Shine“ erwarten, mit dem der Sänger „An Awkward Pause“ zu einem beliebten Nebenschauplatz für CURRENT 93-Fans machte. Hier hört man nur ein kurzes Murmeln, das auch auf seiner EP „I Have A Special Plan For This World“ seinen Platz gefunden hätte und sich eher unbemerkt in das Ganze einfügt.
Wie fast alle NWW-Platten ist „The Surveillance Lounge“ dann auch eine visuelle Augenweide, wobei das Frontcover fast noch den unscheinbarsten Teil von BABS SANTINIs Artwork ausmacht. Vier monochrome Kollagen in erdigem Graubraun lassen die Avantgarden der 20er und 30er in NWW-Manier aufleben und würden vielleicht epigonal wirken, wenn man den stark retrospektiven Zug von Stapletons musikalischer und visueller Kunst nicht kennt, in der Rückgriffe und subtile, ironische Umdeutungen seit jeher eine große Rolle spielen. Ist das nun Avantgarde oder vielmehr eine werkumspannende Kollage aus Stilzitaten? Ich könnte mir vorstellen, dass solche Fragen der Band ziemlich egal sind, und so sollten es auch die Fans halten, die mit „The Surveillance Lounge“ ein reifes, klassisches Stück musique concète in die Hand bekommen.
Bei DIRTER kann man unter dem Titel „The Surveillance Lounge/The Memory Surface“ eine limitierte 3CD-Box-Edition bestellen, die zusätzlich den Soundtrack und eine Remix-CD enthält.
(U.S.)