Es ist schwierig, sich zum Konzept des Samplers „Art of the Muses“ zu äußern, ohne ins Diskutieren zu geraten, sich – eventuell kontrovers – zu positionieren oder verschiedene Standpunkte gegeneinander abzuwägen. Definiert man Musikerinnen nach ihrem Geschlecht und darüber hinaus nach ihrer Herkunft aus nicht-westlichen Ländern, tritt man schnell in diverse Fettnäpfe. Ist es nach wie vor notwendig, darauf hinzuweisen, dass experimentelle Musiksparten keineswegs reine Männerdomänen sind? Schafft man durch derartige Hervorhebungen nicht erst die Vorstellung vom Ausnahmestatus weiblicher Klangkunst, der man ein entsprechendes Talent, zumindest auf den ersten Eindruck, gar nicht zugetraut hätte? Und gilt nicht ähnliches für die Musikerin und auch den Musiker aus Fernost, wenn sie oder er sich in Gebieten bewegt, die doch so stark an unseren hiesigen Status quo geknüpft sind, an eine Kulturgeschichte, die den ganzen Ballast abendländischer Traditionen mit sich herumschleppt? So in etwa könnten die ersten reflexhaften Bedenken klingen, und sie kämen nicht grundlos.
Sicher ist man auch bei bester Absicht nicht automatisch vor dem eigenen musealen Blick gefeit und sollte bei aller Begeisterung der inneren Völkerschau Grenzen setzen. Dennoch würde man es sich etwas einfach machen, sähe man in einem solchen Projekt nur den Exotismus um seiner selbst willen, ohne den praktischen Nutzen für die entsprechenden Künstlerinnen zu sehen, die in ihren Ländern oft nur minimale Infrastrukturen haben und trotz Internet begrenzte internationale Distributionsmöglichkeiten. Etwaige Bedenken könnten im Umkehrschluss auch in einem weitaus schäbigeren Ethnoklischee Marke „nicht schon wieder dieser Dritte Welt-Kitsch“ münden, oder, etwas harmloser, in einer völligen Indifferenz gegenüber kulturellen Kontexten. Wäre ein solches Umschiffen eines wesentlichen Profilmerkmals der Künstlerinnen im emanzipatorischen Sinne konstruktiv? Gewiss nach Maßgabe einer verkürzt rezipierten Diskurstheorie, aber ich erlaube mir hier eine gewisse Skepsis. Auf der anderen Seite sollte man sich auch von dem Gedanken befreien, jede Art von moderner elektronischer Musik aus der Region wäre ein Indiz für „Verwestlichung“. Syrphe-Betreiber C-drik hat einen erfrischend unideologischen Zugang zu solchen Fragen und bewies bei der Zusammenstellung ein gutes Gespür für Ausgewogenheit. Auf „Art of the Muses“ ist ein ausgesprochen breites Spektrum an dem vertreten, was allgemein als experimentelle Musik gilt, quer durch alle Genres und Bekanntheitsgrade und in allen möglichen Relationen zwischen Tradition und Neuland.
Den Auftakt macht die gebürtige Taiwanesin Alice Hui-Sheng Chang mit einer reinen Stimmimprovisation, die anfangs an eine singende Säge denken lässt. Ihre Variation reicht von urigem Krächzen bis zum schrillen Vibrato, und zu ihrer Lautmalerei fallen mir zwei Dinge ein: Zum einen, dass Lisa Gerrard im Vergleich so etwas wie Klopstock-Gedichte vorträgt, zum anderen, dass immer wieder der Klang des Chinesischen durchscheint. Ein zweiter Beitrag von ihr betont einmal mehr das Bizarre mittels hämischem Lachen und einem Stimmeinsatz, der fast nach einem Blasinstrument klingt. Ein solches findet sich dafür in Aki Itos Elektronica-Stück „Slowness“, dessen Vielgestaltigkeit sich mit Midori Hiranos MimiCof-Projekt messen kann, ebenso demonstriert sie ihr Händchen für eigenwillig stakkatohaften Streichereinsatz. Zu den krachigeren Beiträgen zählt der Harsh-Drone der Südkoreanerin Itta, deren zur Unkenntlichkeit verfremdete Stimm- und Spielzeugsounds gut zu ihrem überzeichneten Lolitalook passen. Fast ein Gegenpart in Fom recht traditionell klingender Soundsamples gibt es bei der gebürtigen Japanerin Tomoko Sauvage. Die bearbeiteten Klingeln und Trommeln sowie verfremdete Regentropfen lassen an Aube denken und zählen zu den gelungensten Momenten.
Neben diesen etwas renommierteren Acts finden sich auch recht obskure Geheimtipps. Da wären Kismett aus Singapur und die wiederum aus Taiwan stammende Künstlerin Pei, die sich beide geheimnisvollen Drones verschrieben haben. Schöngeisterei und verspielte Elektronik treffen auf meditative Klänge, deren Harmonie sich schnell als trügerisch entpuppt. Sehr „concrète“ und objektzentriert gestaltet sich die Musik der Chinesin Vavabond, deren Sounds wie kleine Brocken umherfliegen und später einen polyrhythmische Struktur bilden und zugleich so etwas wie Industrieromantik aufkommen lassen. Verita Shalavita Koapaha aus Indonesien kreiert mit Blasinstument und Handdrums eine traditionell anmutende Atmosphäre, Lương Huệ Trinh aus Vietnam liefert ein Stück in EP-Länge ab, das sehr introvertiert beginnt und sich in eine immer lärmigere Richtung entwickelt, und man fragt sich, ob statt „Somnambulism“ auch „Nightmare“ ein adäquater Titel gewesen wäre. Einen recht kurzen, naturbelassenen Schlusspunkt setzt die aus Malaysia stammende Lau Mun Leng mit einem Stück, das allein auf dem Klang von Papier aufbaut.
In der Mythologie sind die Musen lediglich Schutzgöttinnen der Künste, im Volksmund küsst die weibliche Muse den männlichen Künstler, im Werk selbst jedoch ist sie nur indirekt präsent. Dass es bei den hier versammelten Künstlerinnen diesen Umweg nicht braucht, ist eines der schönsten Statements, die im Titel der Compilation enthalten sind. Sie demonstrieren, dass die entsprechenden Länder durchaus Musik exportieren können, die sich jenseits marktgerechter Weltmusik ansiedelt. Gerade deshalb verdienen sie es auch ohne den Stempel des Exotischen rezipiert zu werden. Informationen zu diesen und zahlreichen weiteren MusikerInnen finden sich hier.
Label: Syrphe