Mit Thomas Bernhards Worten könnte man sagen, dass Laury J. Tilbury alias Birdengine am ehesten zwischen den Orten zuhause ist. Das ist zunächst ganz buchstäblich gemeint, denn der aus Südengland stammende Musiker ist auch geografisch ein Reisender. Zur Zeit hält er sich in Thailand auf, frühere Stationen waren die Champagne und Berlin, wo er im Dunstkreis von Woodland Recordings aktiv war. Aber auch musikalisch ist der experimentierfreudige Brite gerne in unterschiedlichsten Regionen unterwegs. Er wird leicht grantig, wenn man seine Musik zu nah am Folk verortet, sieht sich als Popper, der mit Klampfe und Tiermetaphern im Gepäck den perfekten Song sucht. Dunkle, krachige Tapeloops sind ein ebenso beliebtes Experimentierfeld, und zwischen all diesen Orten bildet Birdengine ein ganz eigenes Fleckchen Land. Weiterlesen
Archiv der Kategorie: Reviews
BURIAL HEX: In Psychic Defense
Clay Ruby und seine Begräbnishexe sind sowohl als Einzelerscheinung als auch im Rahmen eines größeren kreativen Biotops interessant. Zuallererst muss man hervorheben, dass sein Verständnis von Noise kaum in bekannte Kategorien passt, ganz egal, wie man nun selbst zu seiner speziellen Art von „Horror Electronics“ steht, die doomig-ambiente Schwere mit der schmutzigen Abgründigkeit des Powernoise kombiniert und doch mehr ist als die Summe seiner Teile. Das kreative Substrat, das vor einem knappen Jahrzehnt zwischen Madison und Chicago entstand Weiterlesen
STONE BREATH/MIKE SEED WITH THE LANGUAGE OF LIGHT: The Aetheric Lamp
„Before the many, there were the few“ schreibt Jeanette Leech in Seasons They Change – ihrer Abhandlung über die Geschichte des Acid- und Psychedelicfolk – im Kapitel, das sich den drei Bands widmet, die lange bevor Free/Weird/Wyrdfolk ein Thema der Mainstreammedien werden sollte, Musik spielten, die von der Incredible String Band und Comus beeinflusst war, nämlich Stone Breath, In Gowan Ring und The Iditarod. B’ee hat sich nach vier Alben als In Gowan Ring mit Birch Book stärker am amerikanischen Folk orientiert und drei hervorragende Alben veröffentlicht, wird aber immer noch primär von denen rezipiert, Weiterlesen
SEWN LEATHER: Sikknastafari Slash Crasstafari
Über Sewn Leather ist hierzulande bisher nur wenig berichtet worden, und es wäre problematisch, die Musik des im Nordwesten der USA lebenden Griffin Pyn als Rhythm Noise vorzustellen, auch wenn Rhythmik und verzerrter Analogsound zu den Hauptmerkmalen seines Outputs zählen. Zu sehr wurde die einst durch Gruppen wie Esplendor Geometrico zur Popart verklärte schöne Maschine zum Klischee ihrer selbst. Und nachdem nunmehr auch das Markenzeichen Postpunk nur noch Assoziationen zur zweihundertsten Joy Division-Gedächtnisband weckt, sollte man auch mit diesem Label vorsichtig umgehen. Weiterlesen
CALEXICO: Selections from Road Atlas 1998-2011
Man könnte Calexico auf den ersten Blick einen gewissen Regionalismus nachsagen. Sie benannten sich nach einer Stadt im Südwesten der USA und spielen eine Musik, die in dieser Gegend verwurzelt ist. Natürlich ist eine solche Beschreibung nicht nur oberflächlich, sie setzt auch einen einseitigen Schwerpunkt. Wie der Name schon andeutet, liegt die Gegend um Calexico (sowie ihr mexikanischen Pendent Mexicali) an der Grenze zweier Kulturen, die sich als gravierend unterschiedlich definieren – einer Region, die von einer Dynamik von hoher politischer Brisanz durchzogen ist, die in den Texten der Band auch wiederholt zur Sprache kommt. Weiterlesen
UR / D.B.P.I.T.: Defenestration
Flavio Rivabella alias D.B.P.I.T. integriert sein Trompetenspiel und seine Field Recordings gerne in größere Kontexte, sei es in Form einer Band oder im Rahmen audiovisueller Arbeiten wie aktuell mit seiner Partnerin xXeNa. Diesen Sommer bahnte sich eine Zusammenarbeit mit dem aus Genua stammenden Trio Ur an – das Resultat lautet „Defenestration“ und vermittelt einen interessanten Eindruck von dem, was man (vielleicht etwas prätentiös) mit postindustrieller Archaik umschreiben könnte. Weiterlesen
DAVID LYNCH: Crazy Clown Time
Wenn es einem Künstler gelungen ist, dass sein Name adjektivisch gebraucht wird, so bedeutet das mindestens zweierlei: eine Kanonisierung einerseits und andererseits, dass sein Werk gewisse inhaltlich-ästhetisch-gestalterische Konstanten aufweist, wiederkehrende Motiv(komplex)e. Beispiele wären etwa Kafka (der Mensch ist nicht zu durchschauenden Mächten ausgesetzt), Lovecraft (der Mensch ist einem nicht zu beherrschenden kosmischen Grauen ausgesetzt), Cronenberg (der Mensch in seiner Fleischlichkeit), Thomas Bernhard (Invektive in rhythmisch-musikalischer Sprache). Auch Lynch hat schon lange seinen Platz Weiterlesen
OF THE WAND AND THE MOON: The Lone Descent
Vorschnelle Geister würden es vielleicht eine anthropologische Konstante nennen, oder aber ein Klischee aus der Küchenpsychologie: Man schätzt und begehrt, was unerreichbar scheint, was man aus der Ferne vernimmt, was stetig, und doch unauslöschlich in der Erinnerung vergilbt. Sehnsucht wird tausendfach verkitscht, und ist doch als realer Schmerz nicht totzukriegen. Doch das Abwesende ist nicht nur ein allgegenwärtiger Punkt, um den das Begehren des Menschen kreist, es ist auch ein Motiv, ohne das die schmachtendste Kunstform überhaupt, die Popmusik, vielleicht nicht einmal existieren würde. “Absence makes the heart grow fonder” hieß es bei Dean Martin und unzähligen Nachfolgern, ins Negative gewendet brachten die Fehlfarben auf den Punkt: “Was ich kriegen kann gefällt mir nicht”. Weiterlesen
LITTLE ANNIE & THE SUN TANGERINE: How Could You?
Anne Bandez hat in den letzten Jahren vor allem mit dem Pianisten Paul Wallfisch musiziert und zwei fulminante Alben unter die Hörer gebracht – wer heute von souligen Torch Songs redet, der sollte das Duo nicht unerwähnt lassen. Nur war sie seit jeher eine Person, die auf vielen Hochzeiten tanzt, und so kommen auch andere Kollaborationen nicht zu kurz. Nach Gesangsbeiträgen für die Band Larsen und Auftritten mit Baby Dee begibt sie sich mit dem Berliner DJ Khan und seinem Sun Tangerine-Projekt auf eine interessante Zeitreise. Weiterlesen
DITHER CRAF: The Resurrection of Mike the Headless Chicken
Es sind wahrscheinlich noch nicht viele (echte) Hühner in einem Hotelzimmer gestorben, aber ein amerikanisches Federvieh namens Mike hatte 1947 dieses zweifelhafte Vergnügen. Sein Tod beendete eine kurze Karriere als Zirkusattraktion und drehte seinem Besitzer, einem Farmer aus Colorado, jäh seinen unerwarteten Geldhahn zu. Das besondere an Mike dem Hahn war, dass er keinen Kopf hatte, denn der wurde ihm eines Abends abgeschlagen, als die Schwiegermutter ihren Besuch ankündigte und in den Genuss eines deftigen Brathähnchens kommen sollte. Weiterlesen
SASHA GREY: Neü Sex (Buch)
Sasha Grey war für ein paar Jahre sicher das Gesicht des amerikanischen Adult Films, doch es scheint fast, als hätte ihr der frühzeitige Ausstieg aus der Branche noch mehr Publicity eingebracht. Ihre derzeitige mediale Überpräsenz verschaffte der 23jährigen allerdings nicht nur neue Bewunderer, sondern auch jede Menge Überschätztheitsvorwürfe – teilweise mit Argumenten unterfüttert, teilweise aber auch einfach im Zuge des derzeit modischen Hipsterhasses, den meist noch hippere Leute kultivieren, frei nach der Devise “uncool ist das neue cool”. Stereotypen pendeln sich ein, die kaum ein professioneller (Ab-)Schreiber unerwähnt lässt: Ihre Rolle bei “Oscar-Preisträger Stephen Soderbergh”, ihre Experimentalband aTelecine, die man freilich nie gehört hat, und deren Name man sicherheitshalber noch mal nachschlägt. Seltener ihre Gastspiele bei Current 93 und Lee Perry. Weiterlesen
MIGHTY SPHINCTER: Rare Unearthed Videos
Gothic hatte schon von Anbeginn immer etwas Theatralisches und auf die Vergangenheit Gerichtetes: Man denke etwa an die Auftritte von Bauhaus, die durch die Beleuchtung an expressionistisches Kino erinnerten – nicht zufällig war die erste Veröffentlichung der Band eine (augenzwinkernde) Hommage an Bela Lugosi. Nik Fiend wirkte dank Schminke ganz so, als habe George A. Romero Mephisto auf Leinwand bannen wollen, die Nebelexzesse der Sisters of Mercy sind legendär und die Virgin Prunes, die natürlich nie in das enge (Genre-)Korsett passten, waren vielleicht die theatralischste all der Bands der frühen 80er. Weiterlesen
SALLY DOHERTY & PAUL KILVINGTON: Silent Spaces
Es gibt wohl kaum einen Musiker, der nicht irgendwann einmal als Fan angefangen hat und später auf die Idee kam, etwas ganz Ähnliches zu machen wie diejenigen, die das eigene empfängliche Gemüt mit so viel Bedeutung nährten. Bei eigenständigeren Künstlern spürt man die Einflüsse eher indirekt, und meist passiert es erst nach Jahren, dass jemand ein Tribute- oder Coveralbum aufnimmt, um alten Vorbildern die verdiente Ehre zu erweisen. Indirekt heißt das dann auch, dass man sich souverän in den eigenen kreativen Bahnen bewegt und es sich leisten kann, die Songs anderer zu spielen. Weiterlesen
MOON DUO: Horror Tour
Bislang waren es eher Grails und Holy Sons, die Psych Rock mit der Ästhetik alter Genrefilme kombinierten und dabei die Hörer gründlich überraschten: Sleaziges Artwork muss der Ernsthaftigkeit einer Musik keinen Abbruch tun, und das Resultat muss nicht mal ironisch wirken. Pünktlich zum 31. Oktober machen auch Ripley Johnson und Sanae Yamada mit ihrem Moon Duo einen Abstecher in die Welt trashiger Horror-Storys und schaffen somit einen Gegenpol zum letzten Wooden Shjips-Album, auf dem sich Johnson einem Highbrow-Thema, nämlich der Geschichte des Manifest Destiny widmete. Weiterlesen
WOLVES IN THE THRONE ROOM: Celestial Lineage
Erwartungsvoll stimmende Glocken, ein episches Keyboard, die ätherische Stimme einer Sängerin. Mit einem solchen Fantasy-Szenario beginnt „Celestial Lineage“, das neue Werk der amerikanischen Band Wolves in the Throne Room. Nachdem „Black Cascade“ vor rund drei Jahren vor allem ein infernalisches Gewitter aus Blast Beats und höllischem Gekeife sein wollte, knüpft die aktuelle Arbeit in Sachen Diversität wieder an „Two Hunters“ an, mit dem die Gruppe erstmals auch jenseits einschlägiger Subkulturen von sich reden machte und den Grundstein zu einem viel diskutierten Image legte. Weiterlesen
MOMICK: s/t (Vinyl-Edition lim. 500)
Bei Momick handelt es sich um ein noch recht junges Projekt, doch die beiden Betreiber Richard Moult und Michael Lawrence sind keine Unbekannten. Moult ist seit langem in verschiedenen Bereichen tätig. Wäre Magritte Landschaftsmaler gewesen und dazu Brite, dann hätten seine etwas dunkleren Gemälde vielleicht ein bisschen wie die des frühen Moult ausgesehen, der in seiner jüngsten Schaffensphase einen abstrakteren, doch nicht minder dunklen Stil für sich entdeckt hat. Weiterlesen
PREMATURE EJACULATION: Dead Whorse Riddles
Die sechzehn auf zwei CDs verteilten Tracks von „Dead Whorse Riddles“ (das Schachtelwort aus „whore“ und „horse“ verwendete Williams später als Titeltrack („Whorse“) als auch als Albumnamen („The Whorse’s Mouth“)) knüpfen an die bisher veröffentlichten Alben der „Lost Recordings“-Serie an, transzendieren sie aber auch zugleich: „The Nature of Pain“ schafft es durch das Zusammenspiel von Loops eine intensive Klangfläche zu erzeugen, in der die einzelnen Elemente sich zu einem Gesamten verdichten, das wie so oft bei Williams eine Atmosphäre der latenten Bedrohung ausstrahlt. Weiterlesen
DAIKICHI AMANO: Human Nature (Buch)
Ich bin weder ein großer Kenner der japanischen Kunst, noch wusste ich etwas über den 1973 geborenen Fotografen und Filmemacher Daikichi Amano, bis ich vor kurzem auf seinen Bildband “Human Nature” gestoßen bin. Darin werden weibliche Akte zusammen mit Meerestieren und Insekten zu Tableaus von seltsam morbider Erotik. Japan- und Erotica-Forscherin Agnès Giard stellt die Bilder in ihrem Vorwort nicht nur in die Tradition japanischer Erotikdarstellungen, sie zieht auch Vergleiche zu barocken Stilleben und Werken des Surrealismus. Rockstar Marylin Manson, ein Fan des Fotografen, beschrieb seine Motive etwas plakativ als Kombination aus Jean Cocteau und Jacques Cousteau. Weiterlesen
SHARRON KRAUS & MICHAEL TANNER: In The Rheidol Valley
Sharron Kraus und Michael Tanner alias Plinth arbeiten nicht zum ersten mal zusammen, schon auf Sharrons Album „The Fox’s Wedding“, seinerzeit bei Durtro Jnana erschienen, hinterließ der Brite als zweiter Gitarrist seine Spuren. Beide Künstler sind einer modernisierten Auffassung des Folk verbunden, beide loten dies jedoch auf ganz unterschiedliche Weise aus. Weiterlesen