CURRENT 93: Birth Canal Blues

Kurz nach dem letzten Current-Album kündete David Tibet bereits einen für kommendes Jahr geplanten Nachfolger an. Den knappen Informationen war immerhin zu entnehmen, dass sich das Werk mit dem Titel “Aleph At Halluciantory Mountain“ wieder stark von der Akustikplatte “Black Ships Ate The Sky“ unterscheiden soll.

ennoch sollen auch hier, ebenso wie bei den dazugehörigen kleineren Veröffentlichungen, wieder eine Menge an Gästen mitwirken. Im Rahmen einer kleinen Europatournee brachte die Band nun zum Sommerbeginn ein Minialbum heraus, welches die Wartezeit bestens verkürzt. Auf den ersten Höreindruck wirkt “Birth Canal Blues“ recht vertraut – beinahe in Minimalbesetzung (David Tibet, Baby Dee, Andrew Liles und noch ein Gast namens Rob Sands) setzen CURRENT 93 erneut auf die von Piano und Textrezitation geprägte Variante ihres Klangspektrums, die man am ehesten von den Aufnahmen um 2000 her kennt, von Werken wie “Soft Black Stars“ und “Hypnagogue“. Gerade der introartige Opener “I Looked to the South Side of the Door“ lässt entsprechende Erinnerungen aufkommen und macht vielleicht den geradlinigsten Teil der vier Kompositionen aus. Die Klavierparts werden diesmal von der exzentrischen Amerikanerin Baby Dee eingespielt, die seit ihrem Wechsel zu Drag City und ihrem letzten Soloalbum sicher dem einen oder anderen Kenner alternativer Popmusik ein Begriff ist. Auch hier basiert die Tastenarbeit primär auf einer loopartigen Struktur, ist gleichsam melodisch, aber nie derart fordernd, dass sie die Aufmerksamkeit des Hörers von der Hauptsache, nämlich Tibets Vortragskunst an der Grenze zum Sprechgesang, ablenken würde. Dennoch kristallisieren sich bei mehrmaligem Hören auch Unterschiede zu den früheren Bandpianisten heraus: Dees Spielweise ist weniger “idyllisch“ als die minimalen Kompositionen Michael Cashmores, aber auch weniger spröde als die impressionistischen Fragmente von Maja Elliott. Fast möchte ich sagen, Dees Spiel ist (melo-)dramatischer, wenngleich es sich um eine unterschwellige Dramatik handelt, die sich vielleicht ihrer Beeinflussung durch klassische Chanson- und Vaudevillekunst verdankt. Selbst ihre kurzeitige Beschäftigung als Kirchenorganistin vermeint man an der einen oder anderen Stelle herauszuhören. Letztlich scheint gerade die latente Unruhe der Grundkonzeption des Minialbums zu entsprechen, denn auch der Gesang wirkt bereits zu Beginn eine Nuance “erschöpfter“ als auf den genannten Klassikern, aber auch fordernder, so dass sich keine wirklich beschauliche Atmosphäre einstellen will. Die gesampelte Zündung eines Motors und das kurze Ansetzen einer sofort wieder abgebrochenen Perkussion unterstreichen die sich ankündigende Dynamik, die sich im zweiten Stück mit dem trügerisch schönen Titel “She Took Us To The Places Where The Sun Sets“ entlädt. Verzerrter als je zuvor schreit Tibet seinen Hörern hier einen nur teilweise verständlichen Text rund um den Begriff “Murder“ entgegen, schafft eine Aggressivität, die seinen Anfangstagen würdig gewesen wäre, und die sich bestens für die Umsetzung auf der Bühne eignet – zumindest auf dem Tilburger Roadburn-Festival zählte das Stück zu den Höhepunkten der Performance. Das Vibrieren und die Verzerrtheit des Gesangs ist natürlich Liles Überarbeitung zu verdanken, der mit weiteren elektronischen Zutaten aufwartet. Sie spiegelt sicher auch Tibets neuerliche Begeisterung für Black Metal wieder und mag in Ansätzen sogar an die SKINNY PUPPY der “Last Rights“-Phase erinnern. Auch die letzten beiden Stücke variieren dieses Spektrum: “The Nylon Lion Attacks as Kingdom“ steht dem vorausgegangenen Stück an Experimentierfreude in nichts nach und löst sich durch Orgeltöne, Pfeifen und weitere Klangquellen noch am weitesten vom reinen Piano- und Gesang-Schema, wenngleich es aufgrund seines betont “leiernden“ Gesangs die größten Längen aufweist. Zum Abschluss werden all jene belohnt, die v.a. die “schönen“ CURRENT 93 mögen, denn mit “Suddenly The Living Are Dying“ zaubern die drei noch einmal eine großartige Schmonzette aus dem Hut, die leider nur knappe zwei Minuten dauert und mit dem Klang von Pferdehufen und einer kurzen Noisekaskade zum Abschluss kommt.

Dass “Birth Canal Blues“, mit welchem CURRENT 93 wieder einen neuen, diesmal vom koptischen Christentum geprägten Themenkreis eröffnen, auf das Album gespannt macht, versteht sich. Das z.T. karikatureske, teils aus fotografischen Impressionen aus Ägypten bestehende Artwork löst Tibets Outsider Art Phase seit “Soft Black Stars“ ab und scheint mit der Schreibweise “ANOK PE AS CURRENT 93“ ebenfalls auf ein neues Kapitel voraus zu weisen. In wiefern man Andrew Liles, der bereits einige Klassiker der Band mit kongenialen Remixen veredelte, als zweiten Elektronikspezialisten im CURRENT-Kosmos willkommen heißt oder doch eher den im Detail experimentelleren Stephen Stapleton bevorzugt, sollte jeder Fan für sich entscheiden – am besten nach dem nächsten Longplayer. (U.S.)