A Powerful Channel of Catharsis. Interview mit der Musikerin Lili Refrain

Die Rede vom Verschmelzen des Künstlers mit seinem Werk muss nicht zwangsläufig ein Gemeinplatz sein. Die junge römische Musikerin Lili Refrain jedenfalls, die unlängst ein Album namens “9” aufnahm und ihrer Gitarre widmete, behandelt ihr Instrumentarium beinahe wie ein lebendes Wesen, sich selbst benennt sie auf der anderen Seite nach einem musikalischen Begriff. Immer scheint die Musik selbst Thema ihrer Arbeiten zu sein, klingt sie doch in einigen ihrer Songtitel ebenso an wie in häufigen zitathaften Rückgriffen auf bekannte und weniger bekannte Stationen der Musikgeschichte. Im Interview erweist sie sich darüber hinaus als ausgesprochen reflektierte Gesprächspartnerin, was die Machart und die mögliche Wirkung ihrer Werke betrifft. Selbstredend muss der Hörer nicht firm sein in den Theorien des Performativen oder der alchemistischen Konnotation von Zahlen, um von Lilis Musik berührt zu sein. Dass ihre Aufnahmen schwer zu kategorisieren sind, kommt unter anderem im folgenden Interview zur Sprache – Verortungen in den Überschneidungsbereichen zwischen psychedelisch angehauchtem Folk, klassischem Rock und experimenteller Musik sind aber dennoch legitim, wenn man denn Begriffe dieser Art nicht allzu eng fasst. Bemerkenswert ist die für eine Einzelkünstlerin überraschende Energie, die sie mehr oder weniger allein mit ihrer akustisch wie verstärkt gespielten Gitarre und ihrer Stimme hervorbringt. An einigen Stellen mag man geneigt sein zu vergessen, dass man es nicht mit einer mehrköpfigen Band zu tun hat. Dies wird vor allem auch bei den Aufnahmen einiger Live-Performances deutlich, die im Netz zu finden sind, und die auf zukünftige Auftritte auch in unseren Breiten hoffen lassen.

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Lass uns ganz altbacken beginnen: Wann hattest du mit der Musik begonnen, hattest du eine klassische Ausbildung genossen und wann ging es los mit dem Projekt, das wir als “Lili Refrain” kennen?

Ich fing mit dem Gitarrespielen an, als ich vierzehn war. Ich hatte nie Unterricht, aber ich hätte gerne eine klassische Ausbildung erhalten. Ich bin reine Autodidaktin und ich begann damit, die Gitarristen nachzuspielen, die ich damals am meisten mochte. Eines der ersten Riffs, die ich drauf hatte, war aus „Fade to Black“ von METALLICA, ich liebte den Tag, als ich das alles gelernt hatte. Mein Soloprojekt begann 2006, als sich mein Interesse mehr darauf richtete, das Anordnen von Klangschichten zu erkunden. Ich begann mit überlagerten Sounds zu experimentieren, mit Tape, Mehrspurrekorder und Sequenzer. Das Verlangen, das auch auf der Bühne umzusetzen war mein Eintritt in die Welt der Loops in Echtzeit, es war für mich absolut eine Revolution!

Wenn du bei Konzerten Looptechniken benutzt, lässt du der Musik oft ihren ganz eigenen freien Lauf, und manchmal wirkt es wie eine Art Jammen mit dir selbst. Denkst du es gibt einen idealen Mittelweg zwischen der Kontrolle, die man als Solokünstler über die Performance hat und der Flexibilität, wenn man eher Teil von etwas Größerem ist?

Die Looptechniken erlauben mir zahlreiche Orchestrierungen meiner selbst, sie lassen mir die Freiheit, alles zu kontrolieren oder mit Soundschichten in Echtzeit zu improvisieren. Auf jeden Fall erfordert der Gebrauch von Loops eine großes Maß an Kontrolle, vor allem was den Rhythmus betrifft. Ändere den Akzent ein bisschen oder schätze die Zeit falsch ein, und schon wird der Song zu etwas ganz anderem. Ich mag es, die darin enthaltene Rogorosität mit der absoluten Unvorhersehbarkeit der Ereignisse interagieren zu lassen, wenngleich die Kontrollkomponente auch während radikaler Improvisationen präsent ist. Diese Freiheit und Flexibilität ist der Grund, weshalb ich niemals fertige Aufnahmen in die Konzerte integriere.

Im Bezug auf die vorherige Frage: Welche Vorstellung vom Künstler ist dir näher – die vom Künstler als Schöpfer eines Werks oder die vom Künstler als einer Art Kanal, durch den Schönheit und Energie fließen?

Alle Lebewesen sind Kanäle, durch die Energie fließt, der Künstler ist meines Erachtens jemand, der nicht anders kann, als diese Energie festzuhalten, und durch seine eigenen Gefühle mit ihr zu arbeiten und sie zu etwas anderes zu sublimieren, etwas wie Musik, Poesie, Malerei, Tanz oder Theater.. und die Wirklichkeit neu zu erfinden, indem er all dies mit anderen teilt. Eher als einen Schöpfer würde ich ihn als eine Brücke bezeichnen zwischen dem Unsichtbaren und dem Sichtbaren, zwischen etwas sehr Leisem und dem Schrei – er ist ein Wieder-Schöpfer!

Wenn du zu entscheiden hättest, dich entweder auf deine Stimme oder auf die Gitarre zu konzentrieren, was würdest du wählen?

Diese Frage bringt mich zur Zeit ernsthaft durcheinander! Vor “9″ antwortete ich ohne zu zögern dass ich niemals ohne meine Gitarre Musik machen könnte, sie war seit jeher das Instrument, durch das ich mich am besten ausdrücken konnte. Sie war wesentlich für mein neues Album, das ein sehr wichtiges und intensives Werk für mich ist. Jetzt, wo “9” draußen ist, denke ich, dass ich nun auch bereit bin für ein Instrument wie die Stimme. Ich habe dieses Universum erst vor kurzem entdeckt und mich wahnsinnig verliebt in die Möglichkeiten, die damit verbunden sind. Die Stimme ist ein sehr viel intimeres und vor allem ein unberechenbares Instrument, ich denke, dass es sehr viel Mut erfordert, sie ernsthaft einzusetzen. Ich habe aber in jedem Fall vor, das zu tun.

Hast du deine Stimme schon immer auf diese Weise gebraucht? Gab es etwas, dass dich davon abbrachte, auf “konventionelle” Art zu singen, oder war es eher etwas graduelles?

Wenn ihr mit “konventionelle Art zu singen“ den Gebrauch von Wörtern meint, so kann ich sagen, dass ich bisher noch nie meiner Stimme den Gebrauch von Sprache anvertraut hatte. Ich ziehe es vor, dem Instinkt bzw. dem Bauch zu vertrauen und meiner Stimme freien Lauf zu lassen in all ihren Möglichkeiten – vom Schreien bis zum Flüstern, vom lyrischen Drama bis zum ironischen Klang eines gewissen Falsetts, das man von Kindern her kennt, die von starken Gefühlen übermannt werden.. Auf jeden Fall war es eine wichtige Erfahrung, bestimmte Kompositionen von G. Ligeti zu hören. Seine “Aventures” und “Nouvelles Aventures” haben meinen Horizont sehr in diese Richtung erweitert.

Dir scheint stattdessen die “onomatopoetische” Seite der Sprache sehr wichtig zu sein. Denkst du, dass der Klang bzw. die Form von Wörtern mehr ausdrückt als ihre Semantik?

Oh ja, “onomatopoetisch” ist ein fantastisches Wort!!!! Mehr als eine Sache der Wichtigkeit ist dies aber, wie ich denke, eine Frage der persönlichen Neigung. Für mich ist Musik eine Sprache, die sehr nah an den Gefühlen ist, viel mehr als die Semantik (die Onomatopoesie ist ein Stilmittel, bei dem außersprachliche Klänge lautmalerisch nachempfunden werden; das können Ausrufen wie “päng!” sein, aber auch ein Wort wie “meckern” erinnert klanglich schon leicht an das Gemecker einer Ziege – Anm.d.Red) . Und ja, ich mag den Klang bestimmter Silben, ich mag den Gebrauch von Rauheit bestimmter Phoneme oder die Sinnlichkeit bestimmter Vokale. Für mich ist es nicht wichtig, ob sie eine spezielle Bedeutung haben, was mich interessiert ist die Kraft ihrer Gesten. Ich denke, der Klang des Lachen braucht das Wort “Lachen” nicht, um besser verstanden zu werden…

Zu deinen Liveshows zählt auch eine experimentelle Version des Klassikers “Nature Boy”, den viele in den Interpretationen von Nat King Cole und David Bowie kennen. Als ich es kürzlich einem Freund vorspielte, dachte er zunächst, du wolltest den Song durch den Kakao ziehen, revidierte aber hinterher seinen Eindruck. Was war der Anlass zu dieser Neuinterpretation, und wie denkst du über die in dem Song anklingende Philosophie?

“Nature Boy” ist ein Lied, das schon immer eine große Wirkung auf mich hatte, und das obwohl ich früher nur die Instrumentalversion kannte und nichts über den Text wusste. Was ich an dem Lied schätze ist seine evokative Natur. Ich hatte mich entschieden, es in meine Performances einzubauen, weil es anscheinend ein perfektes Zwischenspiel ist zwischen dem Heraufbeschwören von Emotion und Kunstfertigkeit – “Ipnotica” und “Imitatio”. Was die Botschaft des Liedes betrifft, so stimme ich absolut überein, dass sie das einzige anspricht, das wirklich von Bedeutung ist: “just to love and be loved in return”!

Deine Musik ist sehr kraftvoll, hat aber auch einen verzweifelten Unterton, der die Energie noch zu verstärken scheint. Glaubst du an die kathartische Funktion von Musik?

Ganz sicher! Musik war seit jeher ein starker Kanal der Katharsis, für mich ist sie der beste Weg, jedes persönliche Gefühl auszudrücken, von Freude bis zu Verzweiflung.

“Polyphylla Fullo” scheint auf eine sehr schmerzvolle Erfahrung zu referieren (zumindest erweckt dein Gesang diesen Eindruck). Kannst du ein paar Worte zu diesem Lied sagen?

“Polyphylla Fullo” (was eine Art Blatthornkäfer bezeichnet, die in Deutschland Walker oder Türkischer Maikäfer genannt wird – Anm.d.Red.) ist ein Song, der mir sehr nah ist. Es ist auf meiner ersten CDr enthalten und ist der Song, mit dem ich meine Liveshows einleite. Es ist einem meiner Lieblingsinsekten gewidmet – Polyphylla Fullo ist einer der wenigen Käfer, die auf Bäumen und nicht auf der Erde leben und sich von Kiefernnadeln ernähren anstatt von Dung. Das Tier ist ein Außenseiter, der ein besseres Leben vorzieht, auch wenn es vielleicht schwieriger zu führen ist. Es ist immer ziemlich schmerzhaft, außen vor zu sein für etwas, dass man will und das einem wichtig ist..

Eines deiner kraftvollsten Stücke heißt „Nine Guitar Symphony“ und stammt aus dem Jahr 2006. War das auch auf deiner Cdr, und planst du diese Arbeiten nochmals zu veröffentlichen?

Ich bin sehr froh, dass ihr mich nach diesem Lied fragt, denn mit genau diesem Stück hatte ich mein Soloprojekt gestartet! Es ist eine Kollagen von neun klassischen Gitarrenspuren und war mein erstes Experiment mit überlappenden Sounds. Ich hatte es zuhause mit einem Mehrspur-Rekorder aufgenommen ohne die Hilfe von Loops und ohne irgendwelche Post-Produktion. Als ich den Drang verspürte, meine Solosachen auch Live darzubieten, kaufte ich mir eine neue E-Gitarre und nannte sie sofort “9”, weil die Zahl dank dieses Songs für mich ein Symbol der Vielfalt war. Ich würde es gerne neu veröffentlichen, auch im Rahmen von Performances, aber ich brauche dafür neun unterschiedliche Gitarristen!

Bezieht sich die Zahl auch auf die neun Musen der antiken Mythologie?

Wie gesagt ist “9” der Name meiner Gitarre, und ihr ist mein Album hauptsächlich gewidmet. Dennoch hat die Zahl “9” eine sehr weite Symbolbedeutung, die auch die Zahl der Musen einschließt. Der erste Teil meines Albums enthält eine “Beschwörung”, und der erste Song, “INCIPIT- number 9”, soll eine Ehrerbietung an sie darstellen.

Alle neun Songs deines Albums beginnen mit einem „I“, dem neunten Buchstaben des Alphabets. Ging es dabei auch um den Klang?

Nicht wirklich. Das Album ist im Prinzip eine Initiationsreise durch drei Stadien. Jedes Stadium enthält wiederum drei Phasen. Die Entscheidung, die Anzahl der Songs und die Initialen ihrer Titel in der Zahl “9” zusammen fallen zu lassen, war rein ästhetisch motiviert.

Die numerologische Komponente und die drei „Invocazione“, „Iniziatione“ and „Incantesimo“ benannten Teile implizieren ein okkultes Interesse. Gibt es da einen Bezug?

Definitiv. Die Symbolik und Alchemie rund um die Zahl “9” sind zu stark um sie nicht zu registrieren. Doch Numerologie ist ein zu komplexer Diskurs, um ihn in wenigen Zeilen abzuhandeln ohne dabei banal zu werden… Wir könnten darüber reden, dass im Tarot das neunte große Arkanum der Eremit ist, der über Licht und Schatten weiß. Es ist die Zahl, die mit den Monaten der menschlichen Schöpfung assoziiert ist, und in mancher Literatur wird sie auch mit dem Teufel in Verbindung gebracht, bezogen auf die Hypothese, dass Jesus Christus nach neun Stunden der Agonie starb… Ich konzentrierte mich primär auf den symbolischen Bezug zur Initiation. Das Album ist autobiografisch, und primär eine persönliche Reflexion über die emotionalen Möglichkeiten überlappender Sounds. Die Einteilung in drei Teile, die wiederum aus drei Stücken bestehen, ist mehr eine Metapher über den Weg, den ich mit meiner Musik bis jetzt gegangen bin.

Deine Musik klingt manchmal sehr amerikanisch (auch ein Titel wie “Desertsnake ballad” erweckt diesen Eindruck). Gibt es Einflüsse von amerikanischen Künstlern? Bedeuten dir Musiker wie Jarboe etwas?

Ich wusste nichts über Jarboe vor dieser Frage! Sie erinnert mich ein bisschen an Diamanda Galás, eine Künstlerin, die ich sehr verehre! Ich höre eine Menge Musik und die Liste der amerikanischen Künstler, die ich mag, ist so lang wie die der Europäer. Rock wurde in Amerika geboren, doch wer wurde nicht davon infiziert? In Europe wurde geboren, was man gemeinhin “Klassische Musik” nennt, und ich verehre Komponisten wie Gesualdo, Bach, Beethoven, Stravinsky… Wenn ich über meine wichtigsten Einflüsse nachdenke, dann muss ich den dritten Satz von Vivaldis „Sommer“ nennen – aber gespielt von einer Heavy Metal-Band mit viel Delay!

Dein Label beschreibt deine Musik als “Espers jamming with a post-me(n)tal attitude, but with the Southern Lord blackened mood”. Wie gut kommst du mit solchen Beschreibungen klar?

Ahahahah!!! Wenn Leute etwas beschreiben müssen, das nicht hundertprozentig in ein bestimmtes Genre passt, erschaffen sie oft witzige Chimären! Ich benutze gerne den Ausdruck SHIPPINGHEAD, um meine Musik zu charakterisieren, ein Grenzland, in dem Alpträume und süße Träume ineinander verwoben sind, wo sich Wiederholung, Minimalismus und das Lyrische begegnen. Und mein Hintergrund kommt vom Metal, und ich habe nicht vor, das zu verstecken!

Was muss man sich unter “Shippinghead” vorstellen?

Das ist nicht so leicht zu erklären, aber ich versuche es: Alles begann damit, dass so viele Leute fragten, was für eine Art Musik ich mache, und ich nie richtig wusste, was ich antworten sollte. Eines Tages, während einer exzessiven Loopbeschallung in meiner Wohnung, sagte ein sizilianischer Freund, der gerade zu Besuch war und schon ganz erschöpft war von dieser ganzen Redundanz “ich weiß, was für eine Art Musik du machst: Du spielst SCIPPA TESTA!”. Es war ein Witz, aber für mich war es eine Offenbarung. In Sizilien ist es eine Art geflügeltes Wort, das verwendet wird, wenn eine Person sehr betrunken ist und seine mentalen Funktionen nicht mehr unter Kontrolle hat. Wörtlich heißt es einfach “abgeschnittener Kopf”. Musik, und vor allem exzessive Wiederholung kann zu ähnlich veränderten Bewusstseinszuständen führen wie Drogen. Denk nur an die Kraft von Mantras zum Bespiel. Mit Loops ist es das gleiche, man könnte meine Musik ja als ein etwas komplexeres Mantra bezeichnen.
Zum Konzept von “SHIPPINGHEAD”: Es ist nur ein Wortspiel, dass auf der Assonanz zwischen “SCIPPA” und “SHIPPING” basiert, und auf der Gemeinsamkeit zwischen “kopflos” und “schiffbrüchig”. Vielleicht kann man meine Musik ja so sehen – “like a ship which helps to SHIP your HEAD away and leaves you shipwrecked in your soul…”

(M.G. & U.S.)

Lili Refrain @ Blogspot

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