HARVEY MILK: A Small Turn Of Human Kindness

Ein riesiger Felsblock bahnt sich einer enormen Walze gleich seinen Weg durch ein ödes Wüstenszenario. So zumindest könnte die erste bildliche Assoziation aussehen, die “A Small Turn of Human Kindness”, der neueste Wurf der aus Athens, Georgia, stammenden Metaller um Sänger Creston Spiers, weckt. Vielleicht würde das Bild einer ungeschlachten, großen Maschine noch ein bisschen besser passen, die sich auf wuchtigen Stahlpranken durch die urtümliche Landschaft bewegt – langsamen und behäbigen Schrittes, und doch alles unter sich begrabend. Sind es die Schmerzensschreie der Zermalmten, oder mehr die Wut des mechanischen Ungetüms selbst, die das in seiner Monotonie dennoch infernalische Growlen hervorrufen?

Wer bei diesem Bild voll paradoxem Entzücken an Doom Metal, Sludge und Noiserock denken muss, der ist hier, bzw. bei der Band HARVEY MILK, die sich Anfang der 90er nach einem der ersten „offen schwulen“ Politiker Amerikas benannte, gerade richtig. Harvey Milk haben bereits eine bewegte Geschichte hinter sich mit allerlei wechselnden Besetzungen und Allianzen, spielten Konzerte komplett mit Hank Williams- und R.E.M.-Coversongs und waren zwischendrin schon mal für länger inexistent. Vor einigen Jahren wurden sie nun wiederbelebt und machten sich mit Unterstützung von Joe Preston (u.a MELVINS, EARTH) auch als Live-Band einen Namen. „I Just Want To Go Home“ nennt sich das vielleicht markanteste der acht Songmonster auf „Small Turn“, und nichts könnte die in Text und Titel implizierte fatalistisch-resignative Resolutheit passender zum Ausdruck bringen als die schleppenden Riffs und die zugleich verzweifelten wie kräftigen Vocals. Das Growling wurde bereits mit NEUROSIS’ Scott Kelly verglichen – zurecht, wobei ein gelegentlicher Hang zum Tremolieren als Unterschied aufgeführt werden darf, welches an manchen Stellen eine unbeabsichtigte Komik bewirkt. Mit Kelly teilen Harvey Milk auch die Vorliebe, starke Emotionen einerseits expressiv zu äußern, andererseits mit einer gewissen Monotonie zu verknüpfen. Diese mag die Aufgekratztheit der um Angst und Entfremdung kreisenden Reflexionen eindämmen und somit kommunizierbar machen, letztlich steht und fällt dieser Aspekt jedoch mit der Vorliebe des Hörers. Man muss ein Faible haben für Kompositionen, deren Dramatik weniger in der Entwicklung, als vielmehr in einer beständigen Intensität ohne nennenswerte Pausen liegt. Zu groß mag einem deshalb auch der Experimentcharakter erscheinen, um die antikisierende Vokabel „episch“ hier zu gebrauchen. Während sich dies bei der Drumarbeit kaum wesentlich ändert, weisen Gitarren und Gesang jedoch durchaus Variation auf – heroische Melodien kristallisieren sich zwischendrin heraus, fast könnte man aufgrund ihrer Abruptheit von kleinen Eruptionen sprechen. Orgelklänge bringen ein gewisses Retro-Moment mit hinein, und bei „I Know This Is All My Fault“ dringen die Vocals etwas gepresster hervor und rufen Grunge in Erinnerung. In diesem Song vollziehen Harvey Milk auch den einzig radikalen Bruch in der Doomrockmaschine – nach einigen Keyboardpassagen, die Momente des 80er-Jahre-Rocks wiederbeleben (oder zweckentfremden), geht das Stück recht unvermittelt in einen sehr schönen längeren Pianopart über, der an reduzierte Minimalkompositionen zeitgenössischer Klassik erinnert. Vielleicht wäre Arvo Pärts „Für Alina“ da eine passende Referenz.

Vom Label wurde „Small Turn“ als vielleicht bestes Album der Band angekündigt, eine Beschreibung, die von langjährigen Kennern verifiziert werden sollte. In jedem Fall ist es ein paradoxes Album geworden – paradox in dem Sinne, dass die größtenteils angsterfüllte und bedrückte Stimmung ihren Ausdruck nicht nur laut und voller Verzweiflung findet, sondern auch in ungemein energiegeladener Form. Die Gruppe selbst betrachtet das Werk bereits als ästhetischen Schiffbruch, eine Selbsteinschätzung, die allerdings ein Leitmotiv der Bandgeschichte ist und den Fan eher neugierig machen als abschrecken sollte. (U.S.)