Was schreibt man nach gut dreißig Jahren Bandbestehen über MERZBOW? Vorstellen muss man Masami Akita sicher niemandem, auch die wichtigsten Wegmarken seiner Karriere sind oft beschrieben worden. Bekannt sind seine Wandlungen vom analogen zum digitalen Kracherzeuger, seine Ausflüge in tanzbare Gefilde, seine unzähligen Remix-Projekte. Ebenso die zahllosen Wiederholungen und Selbstzitate, die schiere Masse an Alben und kleineren Releases.
Teil seines Kultes ist die fließbandartige Veröffentlichungspraxis, die einem Begriff wie Industrial fast mehr zur Ehre gereicht als der Sound des Künstlers. Ohne mindestens ein Album pro Quartal wäre Merzbow nicht Merzbow, die Fans lieben ihn dafür, die Kritiker stöhnen auf, wohl wissend, dass sie sich der Wiederholungspenetranz nur anpassen können, wenn sie das Thema nicht gleich ganz umgehen wollen. Fand Autismus – und das ist hier keineswegs abschätzig oder auch nur flapsig zu verstehen – jemals sein perfektes künstlerisches Pendant, dann im unermüdlichen Schaffen des Japaners. Eine Spezialität seiner Arbeiten der letzten Jahre ist der Einbezug “akustischer” Instrumente in das kraftvolle metallische Rauschen. Was zum Beispiel in “Anicca” (2008) ein freejazzig bearbeitetes Schlagwerk war, ist im Opener von “Marmo” ein nach Ethno klingendes Holzblasinstrument, das sich aber nur eine Zeitlang gegen die Flut grobschlächtiger Metallbrocken und die unterschwelligen Perkussionsansätze durchzusetzen weiß.
„Marmo“ ist der italienische Begriff für Marmor, und laut Labelinfo ist das Album als Hommage an den venezianischen Marmor zu verstehen, für den sich der Musiker bei einer Konzertreise ebenso begeisterte wie für das Werk des Naturwissenschaftlers Leo Lionni, nach dessen Werk „Botanica Parallela“ die Stücke des Albums “Merzbotanica-parallela 1,2+3?” benannt sind. Sollte man die beiden Themen, auf die lediglich in den Titeln angespielt wird, auf die Musik übertragen, so dominiert allerdings wie erwartet der harte Stein über das durchaus vorhandene Organische.
Eine Schwachstelle Merzbow’scher Kunst ist bisweilen Akitas Abdriften in Richtung eines Sounds, der hierzulande mit Rhythm Noise assoziiert wird. Aber das passiert ihm eher aus Versehen, denn an die Klischees elektronischen Tanzkrachs wird in Akitas Universum sicher kein Gedanke verloren. Im weiteren Verlauf zieht Merzbow so manche Register seiner Standardkünste: Hintergründige Ambientteppiche, Spielereien mit dem Tempo, witzige Einsprengsel wie aus einem Glücksspielautomaten, und dann zuguterletzt auch wildes Getrommel auf Metallplatten und Bongos, wohl wie gewohnt vom Meister selbst traktiert.
“Marmo” erschien jüngst bei Old Europa Café, einem der zahllosen Labels der Band, und belohnt den Hörer zudem mit einem schön “psychedelischen” Faltcover, das mit seinen Federornamenten an Akitas derzeitiges Engagement für bedrohte Vogelarten erinnert. Auf weitere dreißig Jahre! (U.S.)