Der Weg des Tursa-Völkchens ist von einer beeindruckenden Geradlinigkeit und Unbeirrbarkeit geprägt. Seit den Anfangstagen von SOL INVICTUS scharte Tony Wakeford Musiker mit eigenen Projekten um sich, doch spätestens seit Mitte der 90er kann man von einer eigenständigen kleinen Szene sprechen mit nur noch losem Bezug zur sich immer mehr aufsplittenden World Serpent-Familie. Und als diese irgendwann in völlig unterschiedliche Richtungen auseinander fiel, stellte sich für Tony und seinen Anhang die Frage nie wirklich, ob man nun der „England’s Hidden Reverse“-Richtung näher stehe, oder jenen Sezessionisten, die damals die Neofolk-Szene so stark prägten. Mittlerweile sind solche Zwistigkeiten ohnehin eher bedeutungslos geworden, und die relative Autarkie des Tursa-Umfeldes wurde mit Langlebigkeit belohnt. In der hier folgenden Werkschau, die programmatisch über die Grenzen des Labelprogramms heinausgeht, hat Tony zusammen mit Klarita Pandolfi von der Agentur Karpate Promotions ganze vierzig Interpreten versammlt, die den Klang der erweiterten Tursa-Family von heute repräsentieren.
Selbstredend sind Projekte mit Tony mit von der Partie, im eröffnenden „Solo“-Beitrag frönt der Chef einmal mehr einer seiner größten Leidenschaften, der klassischen Murder Ballad. Tonys Beitrag steht, wie die meisten Wakeford- und Sol-Songs seit Mitte der 90er, im Mittelfeld zwischen modernisiertem und traditionellem Folk, und präsentiert die Geschichte einer derangierten, verzweifelten Seele aus der Innenschau. Prominente Unterstützung am Mikrophon leistet diesmal KRIS FORCE von AMBER ASYLUM. Tonys ORCHESTRA NOIR, das die Sammlung zum Abschluss bringt, ist nostalgischer im Klangoutfit, aber doppelbödig, besingt es doch die berühmte und längst Symbol gewordene psychiatrische Anstalt Bedlam. Viele der Beiträge kommen in mehr oder weniger folkiger Gestalt, wobei die traditionelle Gangart nur selten in Reinkultur dargeboten wird. Mit Rückwärtspassagen, auffallender Repetition im Gitarrenspiel und burschikosen Spoken Words zählt SUSAN MATTHEWs „Time Will Leave Me Behind“ zu den experimentellen Folkstücken, die den Charakter der Compilation prägen. Mit gespieltem Kitschfaktor fallen auch die ansonsten fast retro-loungeigen HONKONG IN THE SIXTIES in diese Kategorie – nach der wehmütigen Spieluhrmelodie und dem angedeuteten Walzertakt dachte ich noch, dass das Lied nun mit dem Gesang stehen oder fallen muss. Der Gesang bleibt aus, aber das Lied ist klasse. Weniger leicht verdauliche Kost bietet wie gewohnt ANDREW KING, einmal solo, ein weiteres mal in Begleitung der Band BROWN SIERRA, mit der er a capella-artigen Gesang mit industriellen Soundcollagen mischt. Fast Americana bieten (vermutlich unbeabsichtigt) die Newcomer THE HARE AND THE MOON, die ich allen Freunden traditioneller Folkmusik ans Herz legen möchte. Sehr klassisch britisch kommen CHRISTIE & EMILY daher, während AUTUMN GRIEVE eher die Herzen der Schwelgerischen umgarnen mit ihrem vielleicht etwas sehr gefühligen Mix aus einschmeichelnden Gitarrenpicking, lieblicher Violine und wavigem Sporan. AMBER ASYLUMs eigener Beitrag ist ebenfalls folkiger Natur und eines der schönsten Stücke des Samplers. Eher in die klassische Dark Folk-Schiene fallen die kürzlich aufgelösten PILORI und, auch ohne Akustikgitarre, dafür aber mit einem gesanglichen Pathos, an dem sich die Geister scheiden werden: WHILE ANGELS WATCH. Immer mit diesem Genre in Verbindung gebracht werden NAEVUS, die aber seit langem weit darüber hinausgehen. Ich wäre ja dafür, dass sie langsam mal jemand als sträflichst übersehene Fußnote in dem ganzen etwas abgeklungenen INTERPOL- und EDITORS-Hype entdecken sollte – im hier beigesteuerten Song gibt es mit Gitarre, Akkordeon und Gesang wieder die unpluggend-Seite der Band zu hören.
Ein weiterer Schwerpunkt bieten Stücke ohne Songstruktur, bei denen ganz klar der Sound im Vordergrund steht. Das sind zum einen entspannte Ambientkompositionen, denen auffallend oft ein sehr organischer, akustischer Klangcharakter zu eigen ist. In diese Kategorie fallen u.a. die detailreichen Klanglandschaften von ART IMMUNDA, oder HUMAN GREED (u.a. bekannt aus dem Umfeld von FOVEA HEX) mit impressionistischen Miniaturen am Klavier, die gegen Ende in ein raues, kurzes Dröhnen übergehen. Des weiteren der diesmal etwas unscheinbar daher kommende TOR LUNDVALL, der auch für das gelungene Artwork verantwortlich zeichnet, der Waliser Maler und Komponist RICHARD MOULT, dessen von Piano untermalte lyrische Rezitation immer noch auf seine einst angekündigte „Soft Black Stars“-Interpretation hoffen lässt, und die Italiener ALBIREON, deren auf- und abebbende Klangkollage lupenreinen Folkambient bietet. Darüber hinaus gibt es aber auch Beiträge an der Grenze zum Lärm, allen voran SHINIG VRIL, deren Komposition den Hörer in einen alles aufsaugenden Höllenschlund stürzt. Es gibt ferner sakrale (ARCANA), neoklassische (SEVENTH HARMONIC) und rituell angehauchte Beiträge (:GOLGATHA:, HEKATE), aber auch rockige Nummern, die wie MAN EAT MAN EAT MAN (wieder mit LLOYD JAMES von NAEVUS) fast aus den 80ern stammen könnten, oder wie FABRIZIO MODONESE PALUMBOS (r) mit Sägezahngitarren und Black Metal-Gesang den besinnlichen Flow derart unterbrechen, dass ich mich für einen Moment fragte, ob der Song Tony wirklich gefällt. Interessanten Pop gibt es beispielsweise von den Electronikerinnen MERCY LIAO und EVA EDEN, sowie von Sol-Mitglied GUY HARRIS, der mit an BRENDAN PERRY erinnernden Gesang das düsterste Schlaflied seit den ÄRZTEN beiträgt. Eine Kategorie für sich stellen u.a. HIDE & SEEK dar mit ihrer sehr intensiven Synthi- und Flötenmusik mit Ethno-Touch, und letztlich auch der Beitrag von Tonys früherem Weggefährten MATT HOWDEN alias SIEBEN – eine Art Reprise oder Remix von „Sacrifice Content“, eines der Glanzlichter seiner Karriere, das hier quasi die dritte Neuinterpretation erfährt und diesmal ohne Rhythmus auskommt.
Inhaltlich zusammengehalten werden die vierzig Beiträge in erster Linie von einem Tursa-typischen Stimmungsgemisch, das sich zwar primär aus elegischen und verträumten Zutaten zusammenbraut, das aber auch dem Nachmahr und anderen unberechenbaren Gestalten ohne weiteres die Möglichkeit gibt, um die nächste oder die übernächste Ecke zu schielen, und so den Hörer ganz sicher vor der Erfahrung der Belanglosigkeit bewahrt. Eine solche Beschreibung passt natürlich auch zu den Bildern von Tor Lundvall, und vielleicht wäre es am passendsten gewesen, wenn Lundvall, Moult und King, die alle bereits für Tony zum Pinsel gegriffen haben, das Artwork gemeinsam gestaltet hätten – nichts hätte sich besser zur Illustration der gespenstisch-beschaulichen Tursa-Welt angeboten. Sollte ich einzelne Stücke hervorheben, dann wären es wohl Amber Asylum, The Hare and The Moon, Naevus, Hide and Seek, (r), Sieben, Susan Matthews, Tony Wakeford… Ich denke aber, dass jeder, der Wakeford bis heute treu geblieben ist und seine Kollaborateure seit der Phase um „In The Rain“ schätzt, einiges an und in dieser Sammlung finden wird. (U.S.)