SIEBEN: No Less Than All

Obwohl Matt Howden solo und mit seinem bekannten Projekt Sieben einen ziemlich eigenen musikalische Bereich pflegt, haben Einflüsse und Inspirationen immer eine Rolle gespielt. Schon deshalb war sich der Geiger und Sänger auch nie zu schade, Hommagen in die unterschiedlichsten Richtungen auszusprechen. Dass Howden nicht nur ausgewählten Figuren in seinen Songs Tribut zollt, sondern seine Künste auch gerne in den Dienst von Kollegen stellt (zuletzt Atzmann Zoubar), unterstreicht den ausgesprochen kooperativen Charakter des vordergründig autarken Sieben-Kosmos, in dem allerhand versteckte Dialoge stattfinden. Auch dass sich Howden gerne von eigenen älteren Songs neu inspirieren lässt und zeitweilig ruhende Fäden neu aufnimmt, ist Teil der unterschwelligen Dynamik, die seine Kreativität bestimmt.

All dies scheint beim aktuellen Longplayer “No Less Than All” einen besonders hohen Stellenwert zu besitzen, denn schon der Titel und das gleichnamige Stück schlagen erst einmal den Bogen in eine ganz andere Zeit, nämlich in die Frühphase der Band, als sie gerade dabei war, sich aus einem Nebenprojekt der Tursa-Family in etwas ganz eigenständiges zu entwickeln. Der Song entstammt einem Album, in dem sich Howden den Hoffnungen, Verzweiflungen, Idealen und letztlich Gräueln des ersten Weltkriegs widmete. Außerhalb des ursprünglichen Zusammenhangs wirkt der desperate Stoff des Songs abstrakter und offener für Interpretationen, was allerdings auch mit an der neuen klanglichen Gestalt des Stückes liegt, die abgehackter, artifizieller und fragmentarischer als die Originalaufnahme wirkt. Neben dieser Auseinandersetzung mit eigenen früheren Errungenschaften definiert sich der Kern des Albums durch einen vierfachen Blick auf die Werke anderer. Da wäre zunächst die irritierte Faszination durch ein seltsames alter ego in “Preacher Online”, das von einem im Netz predigenden Namensvetter Howdens inspiriert wurde. Der kitschig-feierliche Auftakt, der damit kontrastierende kühle Sound mit leichtem Dub-Charakter und der infantil holprige Walzertakt lassen keinen Zweifel an dem ironischen Unterton, mit dem der andere Matt Howden bei seiner Rede an die Ungläubigen vorgeführt wird. Recht neu ist dabei ein rauer, verzerrter Klang, den man bei Howden in dieser Deutlichkeit bisher nicht kannte. Auch das zurückhaltendere “I saw a face” bekennt sich zum künstlerischen Dialog, denn das plötzliche Erkennen eines Gesichtes in den Wolken fand nicht in der freien Natur statt, sondern auf einer Fotografie des französischen Künstlers Jérôme Sevrette. Ob Howden wohl dem Huysmanns-Protagonisten Des Essaintes zustimmen würde, der die Natur als unsäglich repetitive Schwätzerin abtat, deren Werke als Quell jedweder Erfahrung von Wert gegenüber der Kunst nur abfallen können? Ein Blick auf andere Arbeiten Howdens lässt eher die Vermutung zu, dass eine binäre Dichotomie zwischen Natur und Kunst bei ihm nicht stark ins Gewicht fallen kann – man denke nur an seinen letzten Albumtitel “Star Wood Brick Firmament”, bei dem Natürliches und von Menschen Geschaffenes gleichwertig nebeneinader als Quellen des Schöpferischen benannt werden. Platter Ästhetizismus hatte bei Sieben nie Raum.

Die bekanntesten Referenzen auf “No Less Than All” sind allerdings Joy Division und Kurt Vonnegut. Letzterer erfährt im schlicht “Vonnegut” betitelten Song die ausdrücklichste Hommage, die möglich ist. In Zeilen über Telekinese und alltägliches Rollenverhalten werden bekannte Themen aus dem Werk des für seine spielerisch-philosophische Gesellschaftskritik bekannten Science Fiction-Autors nachgezeichnet, der in einigen literaturgeschichtlichen Handbüchern unter dem Stempel “postmodern” gerne zum Objekt einer zu kurz greifenden Rezeption wird. Die schalkhafte Ironie des Satirikers passt sehr gut zur Stimmung des neuen Sieben-Albums: Wenngleich Howden hier eher eine melancholische Seite anklingen lässt, ist allerorts eine gewizte Unterkühltheit zu spüren, die nie vollends dominant wird (Sieben ist ja ohnehin ein Projekt der langsamen, subtilen Veränderungen), die aber dennoch in vielen Momenten spürbar ist. Höre ich gerade ein Gitarrensolo? Verzerrte E-Gitarrenriffs am Ende noch? Keineswegs, denn es ist stets die Violine, die der Künstler auf so eigenwillige Weise bearbeitet, um den Wohlklang mit etwas Lärm aufzumischen. Joy Division gilt der letzte große Blick über den Tellerrand – mit einer deutlich sanfteren Stimme und der im Postpunk eher seltenen Violine nimmt der Sheffielder dem im stets etwas brutaleren Manchester entstandenen “Transmision” ein gutes Stück seiner Desolatheit, ohne es zu trivialisieren. Ich vermute einmal, dass es sich bei dieser Neuinterpretation vor allem um eine Huldigung handelt, im Albumkontext funktioniert die Version auch mehr als Geste und Zugabe, als dass sie dem Song einen nennenswerten neuen Bedeutungsgehalt verleihen würde.

Im Rahmen von Howdens Diskographie kann “No Less Than All” u.a. eines leisten, nämlich der gelegentlich geäußerten Bemerkung “Sieben klingt wie Sieben” entschieden entgegen zu wirken. Das spartanische und rituell-rhythmische “Shake the Tree” steht mit seiner Unbekümmertheit der rauen, destruktiven Verspieltheit von “Black Dog Day” gegenüber. Das traurigschöne “In a Train” mit seiner unverfremdeten Violine der treibenden Leidenschaft von “He Can Delve In Hearts”, bei dem ich ebenso an Howdens “Desire Rites”-Album denken musste wie an ein Soft Cell-Pendant aus einer anderen Zeit. Auch der auf einen Höhepunkt zusteuernde Aufbau vieler Songs tritt deutlicher in den Vordergrund. “Music is Light” beginnt sanft, melodramatisch und verschwommen, bis rituelle Perkussion eine Brücke zu einem hypnotischen Rocksong baut, bei dem eine vitale Energie nicht nur besungen, sondern gleich selbst durchexerziert wird.

Mit seiner souveränen Verbeugung in ganz unterschiedliche Richtungen und der dekonstruktiven Neuaufnahme eigener Stilelemente erscheint mir “No Less Than All” als das bislang stärkste Sieben-Album. Dass sich das Konzept von Violine, Looppedal, Gesang und vager thematischer Konzeptualität auch diesmal wieder erneuern lässt, belegt, dass es noch lange nicht ausgereizt ist. (U.S.)

Label: Redroom