THE PROTAGONIST: A Rebours

Aufgrund seines gepflegten Stils assoziiert man den klassischen Dandy gerne mit Mode, doch in Wirklichkeit waren die Dandys des 19. Jahrhunderts recht unzeitgemäße Originale, die sich mit ihrem herausgeputzten Äußeren dem Stildiktak ihrer Zeit entgegen stellten. Ihr Protest gegen die moderne Schelllebigkeit, die uns heute nichtig erscheinen muss, war so radikal wie skurril. Es wird gesagt, dass französische Dandies Schildkröten als Haustiere hielten und sie in demonstrativer Langsamkeit an der Hundeleine vor Fabrikanlagen spazieren führten. Arbeit galt laut Oscar Wilde als eines der größten Laster der trinkenden Klassen.

Eine Schildkröte kommt auch in Joris-Karl Huysmans’ Roman “A Rebours”, zu deutsch “Gegen den Strich”, vor. Der Dandy Floressas des Esseintes, anämischer Spross einer alten Adelsfamilie und dem Funktionalismus seiner Generation mehr als überdrüssig, stürzt sich dort zunächst in allerlei abseitige Abenteuer, frönt der sexuellen Ausschweifung, dem Opium und andern dekadenten Freuden der Halbwelt, bis er eines Tages erkennt, dass auch er, und sei es nur als perfekt passendes Gegenprogramm, Teil des verhassten Zeitgeistes ist. Vielleicht war es auch nur die Erschöpfung, jedenfalls wird aus dem versnobten Salonlöwen irgendwann ein Eskapist, der sich in einem abgelegenen Landhaus verbarrikadiert, um dort ganz seinen autistischen Obsessionen nachzugehen. Er häuft „Nerd“-Wissen über obskure spätrömische Literatur an, sammelt überzüchtete Pflanzen und erteilt eine wütende Absage an alles, was als natürlich gilt. Mit Düften versucht er so etwas wie Musik für die Nase zu komponieren. Mit einer Goldschicht und einem Muster aus Edelsteinen überzieht er die besagte Schildkröte, die dem Ästhetizismus freilich zum Opfer fallen muss. Auch so siegt die Kunst über eine Natur, die weg muss. Alles Störende musste radikal ausgeklammert werden, selbst die Diener durften nur auf Filzschlappen über dicke Teppiche schleichen.

Aus Protest gegen zeitgemäße Entfremdung pflegte Des Esseintes eine radikale Egozentrik, selten war eine Romanfigur so sehr Protagonist im wahrsten Wortsinne. Doch irgendwann macht sich auch in seiner faszinierend-morbiden Parallelwelt die Erschöpfung breit. Dem Titel entsprechend war der Roman ein Plädoyer gegen die Zeit, doch in seiner Übertriebenheit und Einseitigkeit war “A Rebours” ebenso sehr Satire. Ob Anarchisten, Träumer oder konservative Rebellen, unzählige Figuren, die mit dem Status Quo des 20. Jahrhunderts nicht einverstanden waren, verehrten den fiktiven Des Esseintes als Idol und ließen sich von ihm inspirieren – von George bis Jünger, von den Surrealisten bis zu den Situationisten war man Fan, und auch im Werk spätmodernder Autoren wie Bernhard oder Houellebecq meint man das Echo Des Esseintes’ zu hören. Zahlreiche New Wave-Bands zählten „A Rebours“ zu ihrer Lieblingslektüre, Marc Almond, David Tibet und Mark Ellis von Elijah’s Mantle wären ohne Huysmans vielleicht nicht geworden, was sie sind.

Aus Ellis erweitertem Umfeld stammt auch Magnus Sundström, der als The Protagonist 1998 ein ganzes Konzeptalbum nach dem Roman benannte. Der Bezug besteht eher lose, so dass man den Titel auch schlicht als Slogan betrachten kann – gegen die Welt, gegen das Leben, um es mit dem deutschen Titel einer Lovecraft-Biografie aus der Feder Houellebecqs zu umschreiben. Die beiden Hauptkomponenten sind ein breiter, wuchtiger Orchestralsound und eine Reihe ausgewählter Textzitate, die auf unterschiedlichste Art einen artifiziellen Nonkonformismus teilen. Von Huysmans selbst wird ein Auszug aus seinem „Satans“-Roman „Tief Unten“ verwendet. Sundström trägt den Passus betont ungekünstelt vor, ergänzt von euphorischen Streichern, die bald zur Ruhe kommen, um martialische Snaredrums zu besänftigen. Klang und Harmonik erinnert an einigen Stellen an In The Nursery zur „Köda“- und „Stormhorse“-Zeit, sind emotional aufwühlend und spannungsgeladen. Einiges ist Keyboard, aber vielleicht passt das ja auch ganz gut zum Künstlichkeitskult der Decadence.

Viele der Beitragenden kommen aus Sundströms skandinavischem Umfeld, so Peter Pettersson (heute Bjärgö), der William Blakes „Song of Innocence“ vorträgt – viel deutlicher als der so anschaulich naive Text demonstriert die Musik das Betrauern einer Unschuld, die verloren ist. Mark Ellis, der ein hervorragender Rezitator ist, macht Shelleys „Mutability“ zu einem Höhepunkt. Hier wird das Monumentale etwas herunter gefahren – ein Zug, der auch einigen anderen Stücken gut getan hätte, denn an manchen Stellen wird das auf Dramatik setzende Pauken- und Streicher-Konzept etwas vorhersehbar. Das Gedicht „Imitation“ des düsteren Phlegmatikers Edgar Allen Poe in Carl Orff’sche Höhen emporzuheben mag einer Taktik des Kontrastes geschuldet sein, die bei mir ihre Wirkung verfehlt. Besser passt der reißerische Neoklassizismus zu dem Stück, das nach einer Thorakskulptur benannt ist – die gigantomanischen Wuchtklötze des Künstlers, seinerzeit in fragwürdigen Diensten, entspringen einem ähnlichen ästhetischen Fundamentalwillen wie z.B. der weltabgewandte Antivitalismus eines Cioran, auch wenn die äußeren Unterschiede nicht größer sein könnten.

Wie eine Klammer umfasst „A Rebours“ die Dekadenz mit all ihren Empfindungen und Ausdrucksweisen – als in sich schlüssiges, aber auch nicht zu eng gefasstes Konzeptalbum, dass nun nach über dreizehn Jahren erstmals vom Berliner Label Raubbau neu veröffentlicht wird – mit komplett neuem Artwork und zeitgleich zum Folgealbum “Songs of Experience”, über das in Kürze berichtet wird. Dass der spezifische Sound zum Teil nach Fantasie-Score klingt, mag an manchen Stellen unpassend wirken, und dass orchestraler Bombast später die (Disco-)Grüfte dieser Welt eroberte, ist schlicht der Lauf der Dinge. Deshalb auch primär ein Muss für spätgeborene CMI-Afficionados und alle Freunde der Pauken und Trompeten. Allen anderen Dandys sei zuvor eine Hörprobe empfohlen. (U.S.)

Label: Raubbau/Ant-Zen