Wie ein unendlicher Fluss von Emotionen: Interview mit Anemone Tube

Seit 1996 veröffentlicht Anemone Tube anspruchsvolle Geräuschmusik, die sich irgendwo zwischen Dark Ambient und Power Electronics bewegt, wobei das Klangbild durchgängig differenzierter ist und enge (Genre-)Grenzen nur da zu sein scheinen, um ge-und durchbrochen zu werden. Dies beweisen auf den ersten Blick so unterschiedliche Veröffentlichungen, wie die Zusammenarbeit mit Christian Renou auf „Transference“, auf der organisch-melodische Tracks zu hören sind, die in ihrer Differenziertheit und Zerbrechlichkeit an Projekte wie Mirror erinnern oder aber die der so genannten „Suicide Series“ zugehörigen Arbeiten „Dream Landscape“ und „Death over China“, auf denen aus Fieldrecordings teilweise eruptiv-aggressive Stücke entwickelt werden, die zeigen, wie man wenig verkrampft konzeptionell arbeiten kann und die musikalische Umsetzung eines locus horribilis nicht in klanglichen Klischees und Sackgassen endet. Im folgenden Interview zeigt sich wiederholt, wie sehr der Künstler die eigene Arbeit und den eigenen Antrieb reflektiert. 

Was kannst du uns über die Anfänge von Anemone Tube berichten? Wie kam es zur Entstehung des Projektes und wie bist du auf den Namen gekommen?

Zur Industrialmusik bin ich über die Metal Szene gekommen, genauer gesagt über das englische Label Earache Records, welches Anfang der 90er Jahre ziemlich wegweisend für neueste, kreative Enwicklungen im Death Metal und Hardcore Bereich war. Besonders die von Earache gesignte Band O.L.D., die auf absolut einzigartige Weise Hardcore und Industrial miteinander verbinden, haben mich total fasziniert. Es folgten Dissecting Table, GGFH, Scorn, Militia, Anenzephalia, Whitehouse, Con-Dom, Brume, Death in June, Les Joyaux De La Princesse, etc., also Projekte, die eher songorientiert bzw. mit melodischen Strukturen arbeiten. Erste eigene Experimente 1996 mit Roland 909, MC303, 4-Spur Taperecorder und analogen Effekten haben den bis heute für Anemone Tube typischen, psychogenen Ambient/Noise Sound manifestiert.

Der Name Anemone Tube hat eigentlich einen rein intuitiven Ursprung. In Bezug zur Musik gefiel mir jedoch die Idee von durch eine Röhre (Tube) fließender Sound – wie ein unendlicher Fluss von Emotionen. Die Anemone ist bekanntlich ein wunderschönes, mysteriöses Meerestier und steht für meine Vision von Schönheit in der Musik, im eskapistischen Sinne auch für deren Fremdartigkeit, also Musik als etwas, das uns in eine andere Welt versetzt.

Gab es musikalische Aktivitäten vor Anemone Tube?

1991 habe ich zusammen mit Freunden meine erste Noisecoreband gegründet, die sich, nachdem wir gelernt haben, die Instrumente einigermaßen zu beherrschen, hin zum Hardcore entwickelt hat (im Stile von Intense Degree, Satanic Malfunctions, Spazz, Drop Dead). Unter dem Namen Hartsoeker wurden diverse Tapes sowie drei 7″ EPs auf dem deutschen Label Useless Records veröffentlicht. 1996 hat sich die Band nach einer kleinen Europatournee aufgelöst.

Zwischen deinem Frühwerk seit den 90ern und deinen aktuellen Arbeiten liegt eine Pause von mehreren Jahren. Wie beurteilst du heute deine frühen Aufnahmen? Da du den gleichen Bandnamen benutzt, scheint dir die Kontinuität zwischen den beiden Phasen wichtig zu sein…

Zumal ich in der Zeit, als ich wieder angefangen habe Musik zu machen, hauptsächlich Leonard Cohen und Death in June gehört habe und wirklich gar keinen Bezug zur Industrial Musik hatte, geschweige denn eine Ahnung davon hatte, was in dieser Szene seit 2000 passiert ist, ging ich total unbefangen an die Sache heran. Getrieben von jungfräulichem Anfängergeist und mit komplett neuem Equipment hat sich bereits nach den ersten Gehversuchen herausgestellt, dass die gleiche Musik zum Vorschein kommt wie damals. Es passiert einfach.

Das Interessante an den neuen Aufnahmen ist, dass sie musikalisch die ganz frühen Tage von Anemone Tube wiederaufgreifen, also depressiven, grimmigen Ambient/Industrial. Gemeint ist hier im Besonderen das „Forget Heaven” Tape von 1997, welches für mich neben der „Flowers of Reality” 10″ LP zu den besten Aufnahmen aus der ersten Schaffensphase zählt.

Inwiefern war die Zeit deines musikalischen Schweigens wichtig für dein heutiges Werk? In welcher Form hast du dich in dieser Zeit mit Musik oder anderen künstlerischen Ausdrucksformen befasst?

In meiner weitestgehend musikfreien Zeit von 2001 bis 2006 habe ich mich v.a. mit Grafik Design und Konkreter Kunst beschäftigt. Im Rahmen meiner Diplomarbeit “Das konkrete Ornament” (reddot award) habe ich mich 2002 mit Formentheorie und Wahrnehmungsphänomenen auseinandergesetzt und abstrakte, minimalistische Grafiken kreiert, die ich in den darauffolgenden Jahren weiterentwickelt und in diversen Galerien und Kunst- und Designinstitutionen ausgestellt habe.

Über ein 2-jähriges Masterstudium in den Niederlanden Ende 2006 haben sich mir neue Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks eröffnet. In dieser Zeit hat sich mein Interesse stark hin zu figurativer Kunst und insbesondere Symbolik in der Bildenden Kunst verlagert. Über die intensiven Creative Writing Workshops im Studium habe ich die Fähigkeit erworbenen, Gedichte zu schreiben, was ich heute direkt mit Anemone Tube umsetze (Metapher, Symbolik, Personifikation, bildliche Metaphorik).

Die musikalische Pause war sicherlich eine totale Befreiung für meine neue Schaffensphase. Die kreative Energie, welche sich über die Jahre angesammelt hat, konnte schließlich nach einer Phase akribischer Vorbereitung – Zusammenstellung von neuem Equipment, inhaltliche, konzeptionelle Auseinandersetzung mit dem Thema und den dazugehörenden Fieldrecordings – völlig ungezwungen umgesetzt werden. Die Aufnahmen von „Death over China” sind größtenteils eine Zusammenstellung meiner allerersten Experimente mit Fieldrecordings.

Dein letztjähriges Album trägt den Titel „Dream Landscape”, und unsere Rezension ist nicht die einzige, die auf den eher alptraumhaften Charakter dieser Landschaft hinweist. Gemäß der Vorstellung, dass Träume Aspekte der Realität widerspiegeln – wie würdest du die Wirklichkeit(en) beschreiben, die diesen Landschaften zugrunde liegen?

Der Titel „Dream Landscape” beschreibt wörtlich übersetzt eine traumhaft schöne Landschaft und soll auch bewusst etwas Positives suggerieren, nämlich eine apokalyptische Vision. In dieser Vision spielt die Wirklichkeit keine Rolle, vielmehr ist „Dream Landscape” eine Verweigerung der Realität per se, ein Rückzug vom realen Leben, „eine Möglichkeit der phantasiemäßigen Erfüllung von Wünschen und Sehnsüchten, die die wirkliche Welt nicht leisten kann” (J. R. R. Tolkien, 1939). Dieser hier beschworene Espakismus ist allerdings nicht das Ergebnis dunkler, individualpsychologischer Muster (eines pessimistischen Geistes), sondern „eine eindeutig belegte, ästhetische Konzeption”, und wie es Michel Houllebecq in seinem Buch über Lovecraft „Gegen die Welt, gegen das Leben” andeutet, eine Form von poetischem Widerstand gegen die Banalität und Monotonie gesellschaftlicher Normen der empirischen Wirklichkeit.

Ganz im Sinne von H. P. Lovecraft geht es auch um eine totale Bedrohung in Form einer gesamten, krankhaft sich ausbreitenen Natur und nicht um einzeln auftretende Zeichen. In einer der ersten Geschichten HP Lovecrafts mit dem Titel „Dagon” (in der ein Schiffbrüchiger nach tagelangem Treiben plötzlich auf eine Insel stößt, die ihm wie vom Meeresboden emporgestiegen erscheint) fürchtet der Protagonist nicht um sein eigenes Leben bzw. die Zerstörung einer persönlich empfundenen Weltordung. Vielmehr hat er eine Vision, in der die in der Meerestiefe lauernden uralten Wesen sich eines Tages erheben, um die ganze Menschheit anzugreifen. Ein gutes Beispiel für die von Lovecraft verwendete Potentierung des Grauens.

Die Serie „The Suicide Series” (mit den ersten beiden Teilen „Dream Landscape” und „Death Over China”) bezieht sich auf das suizidale Verhalten unserer Gesellschaft, deren soziale und hochindustrialisierte Entwicklung selbstzerstörerische Tendenzen angenommen hat, die nicht abzustreiten sind. Mit unserem scheinheiligen Absicherungskurs, bei dem wir die Schuld, das Böse immer beim Anderen, beim Fremden suchen („L`enfer c`est les autres”, Jean-Paul Sarte, zu deutsch „Die Anderen sind die Hölle”), versuchen wir all das bisher Erreichte und Erkämpfte zu verteidigen. Denn unsere größte Angst ist es, unsere Identität bzw. Identifikationen und unseren Wohlstand zu verlieren, und wir tun alles, um dies aufrechtzuerhalten. In Wahrheit sind wir nicht nur Opfer, denen die Hände gebunden sind wie Internierte im Gesellschaftskäfig, sondern auch Täter, die Verantwortung tragen.

In meinen Traumlandschaften herrscht Determinismus auf unerbittliche, jedoch unpersönliche Weise. Die herbeigesehnte endgültige Herrschaft über die Menschheit („I dream of a day, they shall rule again”) ist ein natürliches, durch die Einwirkung vorhergehender Kräfte der Umgebung verursachtes Ereignis und unausweichliches Produkt der Natur („They shall sore above, the haze of the polluted sky”), welches in „Dream Landscape” als morbider Auswuchs phantasievoll angedeutet wird und in „Death Over China” als eine sich langsam ausbreitende Smogwolke erscheint, die die lauthals krachende und in ihren letzten Atemzügen krächzende Stadtlandschaft ertränkt. Diese Phänomene sind die logische, Natur-immanente Konsequenz für unsere Verblendung („For we cast down the demoniac reign, with our adoration of the scorching sun”). Somit wird die Realitätsflucht im positivem Sinne zur logischen Erfüllung einer allen organischen Lebensprozessen inneliegenden (Todes-)Sehnsucht bzw. werden in übertragener Bedeutung überkommene Realitäten und Vorstellungen untergraben und zum Zusammenbruch geführt.

Als Einflüsse auf deine letzten Arbeiten nennst du unter anderem H.P. Lovecraft. Ein Titel wie „Dream Landscape” weist auf das Traumhafte/Somnambule hin. Ist Lovecraft im Allgemeinen eine Inspiration (für dich bzw. für diese Aufnahmen) oder beziehst du dich eher auf seine von Lord Dunsany beeinflussten Werke des Traumzyklus wie z.B. „The dream-quest of unknown Kadath”?

Der Titel bezieht sich auf eine Textstelle in Lovecrafts „The Call of Cthulhu”: „ … and a fantastic painter named Ardois-Bonnot hangs a blasphemous Dream Landscape in the Paris spring salon of 1926.”, wo es um ein Gemälde geht, welches das Resultat des Einflusses von Cthulhu ist, als er aus der Unterwasserstadt R`lyeh vom Meeresgrund empor kam. Interessanterweise wird diese Textstelle nicht weiter erläutert, sondern beschreibt nur eines von einer Reihe von Phänomenen, die sich als Demonstrationen des Übernatürlichen an verschiedenen Orten der Welt ereignen. Das, was auf dem Gemälde dargestellt wird, bleibt der Fantasie des Lesers überlassen. Generell werden in Lovecrafts Erzählungen die von den Protagonisten erlebten Vorkommnisse zwar bis ins Detail ausformuliert, nur sind die wirklichen, die menschliche Wahrnehmung überschreitenden Dimensionen des Grauens, wie z.B. die Gestalt Chtulhus, für den Menschen nicht begreiflich und vermittelbar. Nur unsere angestachelte Fantasie belebt den wahren Schrecken und lässt ihn noch furchtbarer und wahnsinniger erscheinen. Die Aufhebung der Naturgesetze war in Lovecrafts Vorstellung das unheimlichste und bizarrste Ereignis und der Höhepunkt einer eskapistischen Erfahrung in der phantastischen Literatur. Wie auch immer … mit „Dream Landscape” liefere ich das Gemälde (gemalt von der Berliner Künstlerin Alex Tennigkeit) und den Soundtrack dazu.

Als weitere Inspirationsquelle nennst du Mishima. Dieser Autor wird oft sehr einseitig in gewissen musikalischen Genres rezipiert. Welche Werke von Mishima waren für dich relevant und inwiefern überlagert deines Erachtens das Außerliterarische sein eigentliches Werk?

Bei Mishima interessiert mich hauptsächlich dessen Rhetorik und die todessehnsüchtigen Bilder und Metaphern, die er in seinen Werken verwendet. Mit Mishimas Leben habe ich mich bisher noch nicht sehr intensiv auseinandergesetzt; dem Militärfetischismus konnte ich noch nie etwas abgewinnen.

Inhaltlich interessieren mich gewisse Aspekte, wie z.B. in seinem autobiographischen Roman „Confessions of a Mask” der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft in Japan während des Zweiten Weltkrieges. Im Roman geht es um den Versuch der Verinnerlichung und Nachahmung der Konventionen und Umgangsformen der Umwelt durch die Kreierung einer Maske, während der innere Konflikt durch die Unterdrückung der eigenen, wahren Natur zerstörerische Formen annimmt. Bezogen auf unsere heutige Zeit führt dies zwangsläufig zur Frage, hinter welchen falschen Moralkonventionen wir uns in unseren kulturell aufgeklärten, gewiss toleranten, dem Geld hörigen Verhältnissen verstecken?

Death Over China” entstand aus den Eindrücken eines Aufenthaltes in Shanghai und Nanjing. Wie würdest du diese Eindrücke beschreiben, und wie reiften sie zu einem Albenkonzept heran?

Als ich im Rahmen einer Studienreise Anfang März 2007 Shijiazhuang besucht habe, lag die ganze Stadt unter einer dichten Wolke. Es war, als würde sich ein grauer Dunst vor den Himmel schieben, während die Sonne mystisch schillernd in den Abgasen versinkt. In den Städten Chinas ist der Smog allgegenwärtig und viele Menschen tragen Atemmasken, sobald sie nach draussen gehen. Dieses gewaltige, erdrückende Naturphänomen sowie die ungebändigte Energie, die in den Städten Tag und Nacht durch den Klang von Maschinen und Motoren und der Unmenge sich umtreibenden Menschen omnipräsent ist, haben mich sehr fasziniert und letztendlich zu dem Konzept inspiriert. Während meines zweiten Chinaaufenthaltes in Nanjing und Shanghai Ende 2007 sind die Feldaufnahmen für „Death Over China” entstanden.

Klanglich und atmosphärisch ist das Album unglaublich dicht. Kannst du sagen, wie genau du mit dem Ausgangsmaterial gearbeitet hast? Wie kann man sich deine Arbeitsweise vorstellen – folgst einem Plan, oder gehst du eher spielerisch vor, und lässt dich selbst von dem Resultat überraschen?

Der Aufnahmeprozess ist sehr spielerisch und intuitiv. Zuerst experimentiere ich mit den Sounds und Loops und um zu sehen, was passiert. Es ist also ein Trial and Error Verfahren. In den seltensten Fällen gehe ich nach einem bestimmten Plan vor, da mir eine bestimmte Vorstellung, wie etwas zu klingen hat, eher die kreative Energie raubt. Ich arbeite nur mit wenigen Aufnahmespuren und setze nur wenige analoge Effekte ein. In akribischer Feinstarbeit werden die Aufnahmen dann selektiert und digital bearbeitet. Der Perfektionismus beginnt erst in der Editierphase, wo die Komposition seine endgültige Struktur erhält und der Sound bis in kleinste Detail perfektioniert wird, wofür ich immer eine halbe Ewigkeit benötige.

Wie wichtig ist es, dass der Hörer sich des Konzepts und des Ausgangsmaterials bewusst ist? Kann man das Album deiner Meinung nach auch genießen, wenn man nicht weiß, woher die Feldaufnahmen stammen?

Natürlich würde ich mir wünschen, wenn alle Hörer sich mit dem Konzept als Ganzes auseinandersetzen würden und sich nicht nur die Musik anhören, aber nicht jeder bringt das nötige Interesse mit. Ich verstehe meine Arbeit auf jeden Fall als Gesamtkunstwerk, bei dem das musikalische Werk erst durch das Visuelle und Lyrische inhaltlich vollendet wird. Im Falle von „Death Over China” kann sich der Hörer der Thematik jedoch kaum entziehen, da die Fieldrecordings durch den sachten Einsatz von Effekten leicht zu identifizieren sind, so dass man schon eine Ahnung von dem bekommt, was da so vor sich geht. Die musikalische Übersetzung des Themas ist mir bei diesem Album sehr gut gelungen. Die bedrückende, apokalyptische Stimmung wird unmittelbar kommuniziert, wie ein Soundtrack zum Film.

Während du beim Vorgängeralbum das “Surreale” des Traumes betonst, scheint bei „Death over China” der zeitgeschichtliche Bezug direkter zu sein. Würdest du sagen, dass auf Alltagsgeräuschen basierende Musik dies besser wiedergeben kann, als z.B. reine Synthesizer-Musik?

Während man mit reiner Synthesizermusik bestenfalls den großen Kosmos beschwören kann, besteht bei Musik, die größtenteils auf Fieldrecordings basiert, natürlich die Möglichkeit, konkrete Information zu kommunizieren. Diese Tatsache mache ich mir bei „Death Over China” zu Nutze. Inhaltlich erschließt sich „Dream Landscape”, was isoliert betrachtet eher abstrakt wirkt, erst durch „Death Over China”. Es ist auch in meinem Sinne, das Werk als Ganzes zu erfassen, als Teil einer Serie, wie es ja auch gedacht ist.

Deine letzten beiden Arbeiten sind Teil der so genannten „Suicide Series”. Konzepte/Serien können ja einerseits eine gewisse Orientierung bieten und Wegweiser sein, können aber auch einschränken. Was hat dich dazu bewogen, stärker konzeptionell zu arbeiten? Wie sind deine Erfahrungen mit der Reihe bislang?

Es ist sicherlich eine weittragende Entscheidung, wenn ich mir, wie im Falle der „Suicide Series” vornehme, über einen Zeitraum von 5-6 Jahren ausschließlich mit einem sehr begrenzten Kontingent an Fieldrecordings zu arbeiten. Solch eine Vorgabe gibt mir im kreativen Prozess jedoch einen gewissen Halt und dem Sound eine unvermeidbare Kontinuität. Zum Teil arbeite ich auch viel mit Feedback und Synthesizer, was dann wiederum eine gezielte Entscheidung ist, die, wie z.B. bei der „Dream Landscape” CD, konsequent ausgebaut wird. Letztendlich ist es vor allem die Fähigkeit, die vorliegende Vielseitigkeit zu einer Einheit, zu einem harmonischen Gesamtwerk zusammenzufügen – erst dann ist der künstlerische Schaffensprozess vollendet.

Wie kam der Kontakt zu James Plotkin zustande, der die Alben gemastert hat?

James Plotkins musikalische Aktivitäten (O.L.D., James Plotkin solo, Joy of Disease, Scorn, Flux) habe ich seit den frühen 90ern verfolgt. Als ich vor ein paar Jahren gelesen habe, dass er ein Mastering Studio betreibt, war mir klar, dass ich meine Sachen bei ihm mastern lassen werde. James Plotkin ist ein absolutes Soundgenie – einfühlsam und präzise!

Es gibt von Anemone Tube nur sporadisch Auftritte, die aber nie nur eine reine Aufführung des Albenmaterials darstellen, und denen anscheinend ein jeweils eigenes Konzept zugrunde liegt. Welchen Stellenwert haben Konzerte in deinem Projekt, und wo siehst du die wesentlichen Unterschiede zwischen deinen Studioaufnahmen und deiner Livemusik?

Liveauftritte stellen immer eine zusätzliche Herausforderung dar, da man ja als Performer eine stärkere Kontrolle über das Hör-/Leseverhalten des Zuschauers hat (als wenn dieser sich zuhause eine CD anhört). Die narrative Qualität meiner Kompositionen kann ich bei einem Liveauftritt zusätzlich mit Bild-/Videomaterial unterstützen. Bei der Dream-Landscape-Performance ist das Videomaterial psychologisch und emotional so vereinnehmend und intensiv, dass die Musik als der perfekte Soundtrack zum Film fungiert. Der erzählerische Aufbau des Sets und dessen Länge sind hier sehr wichtig, um die Wirkung zu erzielen, die ich mir wünsche – im Idealfall Verstöhrung, Negativität oder Faszination, je nach Charakter der Person.

Was kannst du uns über die Filmszenen erzählen, die bei deinem letzten Auftritt gezeigt wurden, und in welcher Verbindung standen sie zur Musik?

Im Industrialbereich werden Videoprojektionen von den wenigsten Künstlern bewusst eingesetzt. Oft ist es nur überflüssiges Ornament oder Esoterikkitsch, wie man gut in der Darkambient-Szene beobachten kann. Meine Projektionen sind technisch gesehen ziemlich unterentwickelt, aber ich versuche, die Dinge möglichst ehrlich und direkt auf das Wesentliche zu reduzieren – technische Spielereien lenken meiner Meinung nach nur ab und schaden eher. Ein gutes Hintergrundvideo kann die Wahrnehung der Musik stark beeinflussen, thematisch einordnen, künstlerisch positionieren, auf eine weitere Wahrnehmungsebene potentieren und wie bereits gesagt, die erzählerische Qualität der Musik unterstützen. Dies ist mir besonders wichtig, da bei meinen Auftritten ansonsten nicht so viel passiert. Der Zuschauer soll tief in meinen (Alp)Traum hineingesogen werden. Er darf auch gerne unterhalten werden, nicht zerstreut wohlgemerkt, denn Ziel ist vielmehr die Evozierung einer nachhaltigen Reflexion über das Erlebte. Der von Dir gemeinte Film meines Dream-Landscape-Sets ist ein Ausschnitt aus einem österreichischen Undergroundfilm und zeigt Szenen von extremer Gewalt, die provozieren sollen.

Wie ich weiß, spielt Noise und experimentelle Musik in deinen eigenen Hörgewohnheiten eine eher marginale Rolle. Deine Sozialisation fand u.a. mit Death Metal statt, heute hörst du ganz unterschiedliche Sachen. Das ist nicht ungewöhnlich und vielleicht belebender als nur im Saft des eigenen Genres zu schmoren. Gibt es deiner Meinung nach Spuren dieser Hörgewohnheiten in deiner eigenen Musik?

Als Musiker ist es meiner Meinung nach von Vorteil, wenn man die Musik, die man macht, nicht selbst konsumiert. Was meine persöhnlichen Preferenzen angeht, so bin ich hier genau so selektiv, wie wenn es um meine eigene Musik geht. Im Allgemeinen interessieren mich eigentlich immer diejenigen Musikprojekte, welche aus dem allgemeinen Grundkonsens ausbrechen und mich auf ganz intensive Weise emotional berühren. Privat höre ich kaum Noise oder Ambient, bzw. nur Projekte, die sich irgendwie am Rande einer Szene bewegen bzw. nicht unmittelbar einem Bereich zuzuordnen sind. Musik ist für mich – auch wenn es plumb klingt – eine Herzenssache, alles andere ist für mich schlichtweg irrelevant. Mit reiner Soundart kann ich zum Beispiel nur wenig anfangen; das ist größtenteils Musik für das Gedankenbewusstsein.

Es spielt für mich keine Rolle, ob ich Kate Bush höre oder Morbid Angel – die Emotion, welche in mir beim Anhören meiner Lieblingsstücke evoziert wird, ist dabei (fast) die Gleiche. Es geht mir immer um die musikalische Übersetzung eines Gefühls, um eine bestimmte Wirkung beim Hörer hervorzurufen. Mit Anemone Tube reicht dies vom depressiven Darkambient bis hin zum psyochopathischen Whirlwindnoise.

Auf deiner demnächst erscheinenden Splitveröffentlichung mit Brume klingst du wesentlich harmonischer und weniger rau als auf anderen Arbeiten. Ist das für dich die (notwendige) andere Seite deines musikalischen Schaffens?

Genau. Um meine lieblich-melancholische Seite zu nähren, habe ich das Sideproject Oublier Et Mourir ins Leben gerufen, da auch diese Emotionen ihren eigenen, kreativen Raum benötigen. Früher habe ich diese Art von Musik auch unter dem Namen Anemone Tube gemacht, aber das haben die Leute dann nicht verstanden, wobei die damalige Collaboration mit Christian Renou von vielen als eines der besten Ambientalben abgefeiert wird. Über die erneute Zusammenarbeit mit Brume (= Christian Renou) freue ich mich daher sehr. Die Brume & Oublier Et Mourir „A Year To Live” Split & Collaboration 12″ LP wird im April 2012 bei Silken Tofu erscheinen und kann eigentlich als Nachfolger der 2003 erschienenen „Transference” CD gesehen werden; sie wird musikalisch dennoch für Überraschungen sorgen.

Ist Oublier et Mourir als einmaliges Projekt gedacht, oder planst du weitere Aufnahmen unter dem Namen?

Da mein Aufnahmeprozess immer extrem langwierig und zeitintensiv und Anemone Tube sicherlich mein Hauptprojekt ist, wird es wohl noch eine Weile dauern, bis neues Material zustande kommt. Ich habe allerdings noch alte Tracks auf Lager, die ich gerne veröffentlichen würde.

Wie unterschied sich die Arbeit daran von der Zusammenarbeit auf „Transference”?

Zum einen ist es dieses Mal kein reines Collaboration-Album. Es war mir einfach wichtig, auf dieser ersten Veröffentlichung meine eigenen Tracks zu präsentieren, die zu den schönsten Aufnahmen zählen, die ich je gemacht habe. Somit wurde es eine Split LP mit nur einem Collaboration Track, der die beiden Ansätze ganz wunderbar miteinander verbindet. Zum anderen bestand das Basismaterial auf „Transference” zu 90% aus den Geräuschen meiner E-Gitarre. Dieses Mal habe ich ausschließlich mit Stimme und Synthesizer gearbeitet, was aber nicht minder schön klingt. Neben sphärischen Soundscapes kommen jetzt auch songorientierte Elemente zum Zuge.

(M.G. & U.S.)

Fotografie: Dario Lehner (Portraits), Anemone Tube, Jan Ciecierski

Gemälde: Alex Tennigkeit 2009

anemonetube.de