Alle vier Jahre veröffentlichen Depeche Mode ein Album, fragen Journalisten die meist gleichen uninspirierten Fragen (meistens zum Beziehungsgefüge innerhalb der Band) und geht die Band auf eine extensive Tour, auf der deutlich wird, dass im Fansein auch immer Fanatismus steckt. Die Kehrseite der „Devotion“ der Fans ist die extreme Intoleranz – und wer erlebt hat, wie vor etlichen Jahren mit der Supportgruppe Miranda Sex Garden umgegangen wurde, weiß wovon ich spreche.
Jüngst findet sich in fast jeder Besprechung des neuen Albuns „Delta Machine“ – so wie nun auch hier – der Hinweis auf die inzwischen 100 Millionen verkaufter Tonträger. Das ist insofern interessant, als ein Merkmal Depeche Modes ist, dass trotz dieses immensen kommerziellen Erfolgs, von dem inzwischen nicht mehr Mute Records sondern der Major Columbia profitiert, die Band bei manchen immer noch der Nimbus des Avantgardistischen, des Außenseitertums anhaftet, das Fansein also auch immer (noch) ein gewisser Distinktionsgewinn sein kann. Und natürlich: Wer sich anschaut in der Nachbarschaft welcher Künstler sich die erste (nicht sonderlich aufregende) Single „Heaven“ in den aktuellen Singlecharts befindet, dann wundern solche Einschätzungen nicht. Der Verfasser dieser Zeilen erinnert sich noch, wie ihm jemand sagte, er sei DJ und lege in Dorfsdicocs auf und Depeche Mode könne er einfach nicht spielen, denn die seien zu extrem und schräg. Tatsächlich wird ein an Helene Fischer und den Böhsen Onkelz sozialisiertes Publikum die drei Briten auch nur bedingt goutieren können. Das sagt aber dennoch erst einmal mehr über die Hörer als über die Musik aus und ich wage zu behaupten, dass sich unter den Bürokaufmännern und -Frauen, die die fast wöchentlich stattfindenden Depeche Mode-Partys besuchen, wenige finden, die sich eher für experimentelle Musik als für die Ergüsse stumpfer Depeche Mode-Epigonen interessieren. Will sagen: Ane One finden sich sicher eher im CD-Spieler des durchschnittlichen Depeche Mode-Fans als ein Album von Throbbing Gristle.
Aber zum Album an sich: Ob es sinnvoll war, im Vorfeld das Album in nahe Verwandtschaft zu „Violator“ (dem noch immer kommerziell erfolgreichsten Album der Band) und „Songs of Faith and Devotion“ (dem letzten Album mit Alan Wilder, dessen Hand und Ohr für Klänge nicht nur ewiggestrige Fans vermissen) zu stellen, sei dahingestellt, denn zum einen werden damit (zu hohe) Erwartungen geweckt, zum anderen wird die Rezeption in eine Richtung gelenkt, die nur bedingt durch die Musik auf „Delta Machine“ erfüllt wird. Thematisch knüpft das von sperrigen Sounds eröffnete und das Album einleitende „Welcome to my World“ durchaus an „World in my Eyes“ (von „Violator“) an: „And if you stay a while/I’ll penetrate your soul/I’ll bleed into your dreams/You’ll want to lose control“. Da manifestiert sich wieder der Wunsch nach einer abgeschotteten Welt, einem Hortus conclusus, in dem der Sexus re(a)giert und man fast transzendentale Ekstase erfährt (das ist Bataille light). An diesen Wunsch nach Kontrolle eines überschaubaren Raums knüpft das minimalistische, nur von repetetiven technoiden Passagen untermalte „My Little Universe“ an. Auf dem bluesigen „Angel“ inszeniert sich Gahan als jemand, den der „angel of love“ aus dem Ruder wirft. „Lord I felt so small/The legs beneath me weakened/And I began to crawl“ – aber am Ende findet der „Sünder“ den lang ersehnten Frieden. Dieses Stück ist vielleicht paradigmatisch für die von Gore bevorzugte Metaphorik und die großen Geschichten von Leiden und Erlösung, die das Werk der Band seit Jahrzehnten prägen und die (auch) immer wieder von Rezipientenseite mit Gahans schon lange überwundenem Drogenabusus verknüpft werden. Würde man eine tag cloud erstellen , so entstünde ein Wust aus „shame“, „guilt“ („Should be Higher“), „God“ („Secret to the End“), „sinners“ („Angel“) und im Zentrum stünde die „Seele“ („The Child Inside“, „Alone“, „Soothe my Soul“, „Goodbye“). Gores fast schon katholische Metaphorik wirft die Frage auf, ob das nächste Video der Band nicht von Abel Ferrara inszeniert werden sollte.
Der Blues, auf den der Titel des Albums anspielt, findet sich auf „Heaven“, „Angel“, „Slow“ (ein Titel, auf dem die Entschleunigung des Geschlechtsakts zelebriert wird) und dem Abschluss „Goodbye“. Musikalisch anders ausgerichtet ist der Stadionklopper „Soft Touch/Raw Nerve“, den man sich auch in einer Großraumdisco leider nur allzu gut vorstellen kann, oder auch das treibende als Vergewaltigungsphantasie lesbare „Soothe My Soul“, das als zweite Single ausgekoppelt werden wird. Es finden sich aber auch klare Rückbezüge auf die 80er: „Broken“ könnte von „Music for the Masses“ stammen und auch „Secret to the End“ oder „Should Be Higher“ (eine von drei Gahan-Kompositionen) verweisen auf die Vergangenheit – ohne aber allzu nostalgisch zu klingen. Auf der regulären Albumedition findet sich mit „The Child Inside“ die einzige von Martin Gore gesungene Nummer . Die immer wiederkehrenden Themen und Topoi (Liebe und Sex) sind für sich genommen kein Problem, viele (große) Künstler in allen Genres arbeiten sich jahrzehntelang an immer wiederkehrenden Themen ab, allerdings schießen die Texte manchmal über das Ziel hinaus, aus Pathos wird dann Bathos: „It was you that took my sould/Threw it in the fire/Tamed it in the rapture/Filled me with desire“. („Goodbye“).
Dennoch: Trotz der angesprochenen Schwächen, die sich in der einen oder anderen Form auch auf anderen Tonträgern der Band fanden, ist „Delta Machine“ ein Beispiel für großartige Popmusik, die vielleicht – um auf den Anfang zurückzukommen – aus der Sicht mancher kaum avantgardistisch sein dürfte, die aber nicht nur graduell besser ist als der Großteil dessen, was die Charts bevölkert und davon einmal abgesehen gibt es Künstler, die weitaus schlechter altern und nach 30 Jahren nur noch Schatten ihrer selbst sind. Insofern spricht nichts dagegen, die im Eröffnungstrack besungene Welt zu betreten.
M.G.
Label: Columbia
Band: Depeche Mode