ORCHIS: Chimaera

Orchis ist ein englisches Folktrio um den ex WSD-Mitbegründer Alan Trench und steht nicht nur für glasklaren weiblichen Gesang, sondern auch für ein improvisiertes Saitenspiel, das immer etwas unberechenbar wirkt und manchmal, zusammen mit den Rasseln und Trommeln, auch ordentlich scheppert und knarzt. Wer erst durch den medialen Folkhype vor rund zehn Jahren sein Interesse an solcher Musik entdeckt hat, ist eventuell noch nicht auf die Gruppe aufmerksam geworden, denn die Zeit ihrer regelmäßigen Aktivitäten lag in den 90ern und wurde durch eine kreative Diaspora abgelöst, in der die Mitglieder sich zahlreichen anderen Projekten widmeten. Nun sind Orchis zurück, und bevor in ein paar Monaten das neue Album „A Dream“ in den Regalen steht, bietet die EP „Chimaera“ einen gelungenen Vorgeschmack. Primär für Konzerte Ende letzten Jahres angefertigt, kann man noch einige Kopien bei der Band bestellen.

Wer Orchis mag, tut dies in der Regel gerade, weil ihr Folk meist etwas sperriger ist. Seltsamerweise freut man sich dann aber umso mehr, wenn die Band hin und wieder zeigt, dass sie auch richtig schöne, fast poppige Folkballaden spielen kann, bei denen nicht nur der Gesang von filigraner Schönheit ist. Gerade „Chimaera“, das jüngst in einer schändlich geringen Auflage erschien, sollte jedem gefallen, der Folk eingängig und urtümlich zugleich mag, und wenn ich an der Stelle die angejazzten Pentangle, die herbe Verhuschtheit Anne Briggs’ oder traditionsbewusste Zeitgenossen wie The Owl Service nenne, dann soll dies kein Vergleich sein, sondern nur vage das Territorium abstecken, in dem auch Orchis zuhause sind. „No Return“ beginnt mit fast etwas braven Zupfakkorden und einem feierlichem Paukenschlag, erst durch die elektrische Gitarre mit dem typischen Orchissound fühlt man sich an frühere Zeiten erinnert. Dass der Song nur oberflächlich zahm ist, wird nicht nur durch allerlei Dröhnen und Rasseln demonstriert, viel mehr noch durch die Doppelbödigkeit des kurzen, von Tracy Jefferys heller Stimme mantraartig wiederholten Textes, dessen pessimistischer Ton mehr und mehr in ein genügsames amor fati übergeht. Verspielt und ernst gleichermaßen evozieren wenige Worte über das Leben und die Zeit eine naturmystisch eingefärbte Stimmung, bei der ich nicht zum ersten mal an das Griechenbild eines schnauzbärtigen Philosophen denken musste. Das mag etwas over the top sein und ist eventuell der Wahlheimat einiger Mitglieder auf der Ägäis-Insel Euböa geschuldet, aber ihre ritualistisch inspirierte Folklore verströmt eine vitale Frische, die so gar nichts gemein hat mit der grauen, tristen Biedermeierlichkeit manch anderer Neofolk-Heiden. Orchis bezeichneten ihre Musik einmal als eiserne Faust im samtenen Handschuh, und nichts könnte dies mehr bestätigen als der liebliche Gesang in „Fisherman’s Daughter“, einem viktorianischen Ohrwurm über ein gefallenes Mädchen, dessen Text leicht umgeschrieben wurde und nun ohne versöhnliche Schlussgebung auskommen muss.

Trickreich wie ein trojanisches Pferd bildet die reizvolle Lieblichkeit der Songs stets das Einfallstor für einen subtil paganen Blick auf die Wirklichkeit, die fern jeder idyllischen Fantasy ist, aber ebenso fern von jeder resignativen Miesmacherei einen ungekünstelten, bisweilen krassen Fatalismus transportiert. „Just As The Tide Was Flowing“, eine mit mediterranen Klängen versehene englische Volksballade präsentiert ein Frauenbild, dass zu jeder betulichen Vergangenheitsverklärung quer liegen muss. Shirley Collins, die prominenteste der früheren Interpretinnen des Songs, bezeichnete die englische Folktradition einmal als die subtilste und zugleich undramatischste der Welt – auf die ungewöhnliche erotische Ballade jedenfalls trifft das zu. „Lucifer“ gibt der EP dann einen eher hörspielartigen Ausklang. Wenn Alan, der sich stets nur sporadisch zu Wort meldet, eine Passage aus Robert Herricks barockem Gedicht „The White Island“ rezitiert, knüpft dies auch an eine weitere neue Band aus dem Dunstkreis an, nämlich The Howling Larsens.

Auf „Chimaera“ kann man eine Band kennenlernen, die so wenig Kulturindustrie ist, dass sie in der gängigen Folk-Geschichtsschreibung höchstens beiläufig erwähnt wird – zu Unrecht! Die EP ist auf CDr im Vinyl-Look erschienen und über dagbert58@gmail.com erhältlich. (U.S.)

Label: Cryptanthus