In den meisten Fällen ist ja doch von Musik die Rede, wenn der Begriff “field recordings” fällt, von Klängen also, die zwischen Aufnahme und Mastering einige bedeutsame Bearbeitungsschritte erfahren haben, was nicht selten in unterschiedlichen Graden der Verdichtung, Harmonisierung oder Rhythmisierung resultiert. Die eigentlichen Feldaufnahmen sind in dem Fall nur ein Moment unter vielen. Chris Watson, der allein in seiner Zeit bei The Hafler Trio sein Können im oben genannten Bereich ausgiebig demonstrierten konnte, ruft in seinem neuen Release nicht nur das Rohmaterial selbst in Erinnerung, sondern auch den Ursprung des Begriffs in der Welt der Wissenschaft, entstand die “Feld”-Metapher doch in Anlehnung an die soziologische Praxis der Feldforschung. Musik findet sich auf seinem neuen Album keine, auch wenn das Wort „Gospels“ im Titel das vielleicht suggerieren mag.
Mit Soziologie hat Watsons neuestes Projekt allenfalls am Rande zu tun, vielmehr ging es in dem von der Durham University finanzierten Auftrag darum, die klangliche Atmosphäre der nordenglischen Insel Lindisfarne möglichst in Abwesenheit zivilisatorischer Klangquellen aufzunehmen und zu dokumentieren. Lindisfarne, das so nahe an der Küste gelegen ist, dass man es bei Ebbe auch per Auto erreichen kann, ist ein für die Geschichte Großbritanniens wichtiger Ort. Im 7. Jh. ließen sich dort schottische Mönche nieder, primär in der Absicht, von dort aus den nicht keltisch geprägten und aus christlicher Perspektive rückständigen Teil der Britischen Inseln zu missionieren. Bald entstand auf der „Holy Island“ das zeitweise wichtigste Kloster dieser Bewegung, die unabhängig und z.T. im offenen Widerspruch zu Rom agierte und erst gut zwei Jahrhunderter später durch Wikingerüberfälle zuende ging. Das wichtigste bis heute erhaltene Erzeugnis aus dieser Zeit sind die Lindisfarne Gospels, eine pergamentene Evangelien-Ausgabe von beeindruckender künstlerischer Virtuosität. Über all dies kann man sich in dem aufwendigen Booklet informieren, das auch optisch – Stichwort Jon Wostencroft – den bekannten Touch-Standards entspricht.
Vom Kloster der frühen Missionare sind heute nur noch Ruinen erhalten, ebenso von der späteren Benediktinerabtei und der in der Neuzeit errichteten Wehrburg. Dass die Insel heute primär Vogelschutzgebiet ist, fällt bei den Aufnahmen, die jeweils eine Jahreszeit dokumentieren, am deutlichsten ins Auge, denn neben der Brandung und den Geräuschen von Wind und Regen sind vor allem Vögel zu hören – ihre Stimmen, ihre Bewegungen in Luft und Wasser. Monoton und eindimensional ist das keinesfalls: Im „Winter“-Teil hat das Schnattern der Gänse und Enten einen fast rhythmischen Charakter, so dass man für Momente an der fehlenden Bearbeitung zweifeln mag, das An- und Abschwellen ihrer Stimmen über dem konstanten Dröhnen der Brandung erfolgt zwar in Intervallen, die allerdings sind in Länge, Dichte und Klangfarbe stets unberechenbar. In den weiteren Jahreszeiten „Lencten“, „Sumor“ und „Haerfest“ kommen weitere Vogelarten hinzu, Schwalben, Möwen und etliche mehr, die im Booklet akribisch aufgeführt sind, und es muss Spaß machen, dies alles auseinanderhalten zu können. Der Frühling mit seinem helleren, luftigeren Klang und seinen sanften Wellen klingt insgesamt maritimer, im Sommer gerät die Brandung zu wahrem Lärm und im Winter gesellen sich Robben hinzu. Unerklärlich das Klingeln (von einem Schiff?) und die gruseligen Tierstimmen im zweiten Teil, die sich wie menschliche Stimmen anhören.
Natürlich werden einige monieren, dass auf der CD „nur“ Vogelstimmen und andere Naturgeräusche zu hören sind und behaupten, die Idee sei besser als das Resultat. Aber das wäre nur ein Indiz für Desinteresse, denn das Resultat lebt von der Idee, und beansprucht keineswegs zur Hintergrundbeschallung gehört zu werden. Watson dokumentiert die Klänge einer Insel, wie sie vor der Ankunft der ersten Mönche geklungen haben mag und wie sie auch heute wieder klingt, ohne Gebete, Gesänge und Glocken. Wer hat nun den Sieg davon getragen, die christliche Religion oder die ewigen Rhythmen des Jahres und der Gezeiten? Bedenkt man die beeindruckenden Ruinen und die Seiten der Lindisfarne Gospels, dann sollte klar werden, dass dies keine Frage von entweder/oder ist. (U.S.)
Label: Touch