Die Shō ist die japanische Ausprägung einer in ganz Ostasien verbreiteten Mundorgel, die vor allem in der höfischen Musik Verwendung fand und einen eher „trockenen“ Klang hat. In früheren Epochen wurde das Holzblasinstrument im Kontext ethnobotanischer Rituale verwendet. Das ist dann auch einer der Gründe, warum die kanadische Musikerin Sarah Peebles und ihre Kollegen seinen Klang nicht nur mit anderen Instrumenten und der menschlichen Stimme zusammenbringen, sondern auch mit Naturgeräuschen verschiedener Art.
„Delicate Paths“ – ein Titel, der genug Spielraum für Assoziationen lässt, der aber sicher auch auf die feinsinnige Kombinatorik verweist, mit der die Musiker die Shō mit einer Vielzahl an klanglichen und sprachlichen Komponenten zusammenfügen, um ganz unterschiedliche atmosphärische Horizonte zu eröffnen. Das Album enthält abwechselnd Solos und Stücke, die von Gruppen unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung eingespielt wurden, wobei alle Stücke bereits im Titel einem bestimmten Aspekt in der Geschichte des Shō-Spiels, meist bestimmten Materialien, gewidmet sind. Auch wenn nicht immer die genannten Materialien verwendet werden, verweisen Titel und Sound immer wieder auf das Physische und physisch Erfahrbare, das einen großen Teil des Konzeptes bestimmt.
Was beim ersten Solo besonders auffällt ist die Eindringlichkeit des eher schrillen Tones. Auch bei eher unangestrengten Melodiepassagen wirkt der Klang spröde, sodass die kontemplative Atmosphäre wohl für die meisten westlichen Ohren kaum zu romantischer Exotik gerinnt. All dies modifiziert sich in unterschiedlichen Graden, sobald andere Klangerzeugung (wie Perkussion oder das von der Klangfarbe her ähnliche, aber wesentlich softere Tenorsaxophon) dazu kommt, wobei der Beitrag von Gastsängerin Suba Shankaran auf dem Fundament einer simplen Shō-Melodie eine besondere Hervorhebung verdient.
In den Passagen, die den herben Flötenton mit undefinierbarem Schaben und Brummen und den Geräuschen von Vögeln von Insekten verschmelzen lassen, entsteht eine merkwürdige Verunsicherung bezüglich der Trennlinie zwischen vorgefundenen Naturklängen und von Menschen geschaffener Klangkunst. Das Shō-Spiel scheint sich mehr an den Gegebenheiten des Instruments zu orientieren als am Formwillen der Künstlerin, die Naturgeräusche dagegen wirken arrangiert. Vielleicht ist diese Symbiose ja Teil jenes Nicht-Sichtbaren, das Peebles als die Essenz des Hörens schlechthin betrachtet.
A. Kaudaht
Label: Unsounds