Falls es im Werk des Sängers und Gitarristen Nick Grey so etwas wie einen gemeinsamen Nenner gibt, dann dass nahezu alle wichtigen Bestandteile seiner Musik schwer zu greifen und doch seltsam vertraut sind. Da ist zum einen die mit seinem Random Orchestra eingespielte Musik, die er nicht zuletzt auch darum „Oblique Pop“ nennt, weil sie alle Genremuster sprengt – würde man sie auf den einfachen Gegensatz zwischen songhafter Akustik und experimentierfreundiger Elektronik reduzieren, so könnte man sie vielleicht irgendwo in dem weiten Feld zwischen Martyn Bates und These New Puritans unterbringen, aber was hieße das schon? Da sind zum anderen die düsteren und oft surreal anmutenden Texte, in denen Figuren wie aus einem Thomas Bernhard-Roman zum Leben erwachen und die Hörer die schöne Kunst der Selbstisolation lehren. Ein Leben, das nur der Beobachtung gewidmet ist, ein Leben als Verschwinden, Menschen, die sich einander zuwenden und sich einer fast Bunuel’schen Logik entsprechend doch immer wieder verpassen. Seltsam vertraut erscheint all dies, weil man bei keiner Zeile, keinem Sound, keinem musikalischen Motiv den Eindruck los wird, dass man mit all dem schon zu tun hatte, im Leben oder auf Platte, denn Greys Musik ist auch eine virtuose Feier des Channelns und Umfunktionierens von Dingen, die in allen Winkeln der Welt ihre Spuren hinterlassen haben. Greys künstlerische Biografie ist so alt wie er selbst, er wurde in den 70ern in Süddeutschland als Sohn eines britischen Tenors und einer aus Rumänien stammenden Tänzerin geboren und nahm auf ausgedehnten Tourneen am Künstlerleben der Eltern Teil. Seine musikalische Karriere stand zunächst im Zeichen minimalistischer Klanggebilde droniger oder folkiger Natur, seine Wege kreuzten sich mit Größen wie Charlemagne Palestine, Richard Moult, dem erwähnten Bates und vielen mehr. Nach ein paar unsteten Jahren und einer gewissen Distanz zur Musikwelt hat Grey seine Band neu belebt und im letzten Jahr ein opulentes Stück Exprimentalpop auf Platte verewigt. Dieser Tage steht der Nachfolger mit dem Titel „Breaker of Ships“ ins Haus.
Was kannst du unseren Lesern über deine persönlichen und musikalischen Hintergrund erzählen? Wann und wie hast du mit der Musik angefangen und in welche Projekte warst du involviert?
Hallo liebe Leser, ich begann mit der Musik 2001 in Frankreich. Ich spielte in einer Band, die von Surrealismus und Dadaismus beeinflusst war und deren Name grob ins Deutsche übersetzt „Die Kirche der Invertierten Psalterischen Bewegung“ hieß. Wir waren nicht sehr gut, aber wir waren laut und verstörend. Wir brachten ein Album heraus, spielten drei Konzerte, die jedesmal damit endeten, dass das Publikum uns lautstark zum Aufhören zwingen wollte (für gewöhnlich nach dem vierten Song), und lösten uns dann auf. Ein paar Jahre später erhielt ich einen Brief von einer Person, von der ich noch nie gehört hatte, die sagte: „wenn du deine Band nicht wiederbelebst, dann mache ich das. Betrachte mich als den neuen Führer der Kirche der Invertierten Psalterischen Bewegung“. Es war singniert mit „Adrien”. Ich fand die Idee gut, aber ich denke nicht, dass die zweite Inkarnation der Band jemals etwas herausbrachte. 2005 gründete ich Nick Grey & The Random Orchestra, das bis zum heutigen Tag existiert. Ich habe einen primär klassischen Hintergrund, war aber immer schon fasziniert von Maschinen, Synthezisern und früher elektronischer Musik, was manchmal die schrägen Stilassoziationen erklären mag, die unsere Musik begleiten.
In den letzten Jahren sind mir nur ein paar Aufnahmen mit deinen Bands 48 Cameras und 230 Divisadero aufgefallen, unter deinem eigenen Namen hast du dagegen kaum etwas herausgebracht. Seit letztem Jahr bist du nun mit zwei Alben zurück, auch bist du in das Land, in dem du geboren wurdest, zurück gekehrt. Siehst du all dies als einen Neuanfang?
Ja, es ist definitiv ein Neubeginn. Es ist viel passiert in diesen letzten fünf Jahren, wenn auch vielleicht nicht musikalisch; es war zeitweise schwierig, die rechte Balance zwischen den Dingen zu finden. Ich zog viel umher. Ich versuchte, irgendwo heimisch zu werden, es misslang, ich zog weiter. Doch ja, wir sind nun zurück und ein Album pro Jahr ist mehr oder weniger der Plan. Wir sind tatsächlich vor sechs Monaten nach Berlin gezogen, und ich kann sicher sagen, dass dies die aufregendste Zeit für uns zum Musikmachen ist.
Gibt es für dich ein neues Element, das deine heutigen Arbeiten von den früheren Aufnahmen unterscheidet?
Ich denke, ich hatte genug davon, allein zu spielen. „Spin Vows Under Arch“ war für mich der Kulminationspunkt einer Zurückgezogenheit, die sich am Ende in Bitterkeit verwandelte. Ich dulde keine Bitterkeit in meiner Musik, und so war es Zeit aufzuhören. Es war für mich auch das Ende der Zwanziger. Dreißig zu werden hieß für mich irgendwie, dass nun das ganze innere Phlegma plötzlich zum Vorschein kommt, das seit der Kindheit im Körper steckt. Vieles ging seit dieser Zeit viel besser, aber paradoxerweise wurde es auf musikalischer Ebene etwas kompliziert, „relevante“ Dinge zu finden, die sich auszudrücken lohnten. Ich bin sehr vorsichtig mit so etwas – wenn es sich nicht relevant anfühlt oder wenn es zu persönlich ist, schmeiße ich es meistens raus. Etwas später ereignete sich für mich etwas sehr wichtiges, indem ich Louis Pontvianne traf, einen extrem talentierten Musiker, der einer meiner engsten Freunde wurde und mit dem ich seit dieser Zeit zusammenarbeite. Nicht nur war die Kommunikation zwischen uns sehr gut, wir hatten auch eine Menge Spaß während der Arbeit: ein berauschendes Gefühl, das ich so im Zusammenhang mit der Musik nicht kannte.
Trotz des Namens erscheint mir deine Band keineswegs „random“, aber wie es scheint haben die Mitglieder alle einen unterschiedlichen Hintergrund, was der Variationsbreite der Musik sehr zugute kommt. Wer sind die wichtigsten Personen und was macht sie zu so passenden Bandmitgliedern?
Louis Pontvianne ist zur Zeit das Hauptmitglied des Random Orchestra – er spielt mehr oder weniger alles sehr gut und ist im Grunde seines Herzens Bluesmusiker. Dies wird ergänzt durch Leute wie Boyarin, dessen Zugang zur Musik sowohl methodisch als auch sehr experimentell ist. Sarah Maison war ebenfalls an unserem letztjährigen Album beteiligt, und ich kann jedem nur raten, sich ihre großartigen Songs anzuhören – sie macht eines der wunderbaren Dinge, von denen ich nicht einmal träumen könnte: vor einem Publikum sitzen mit nichts als einer Gitarre und damit jeden in ihren Bann ziehen. Und das liegt nicht nur an ihren Beinen, ich hab ja ebenfalls großartige Beine. Nicht zuletzt hat Peter James unsere letzten Arbeiten gemixt und gemastert und vieles mehr. Sein Beitrag ist immer essenziell, seine Geduld göttlich. Für uns ist er so etwas wie ein Therapeut, ein Guru und ein Bürgermeister – er hat immer das letzte Wort.
Wie sehr sind die Leute in das Songwriting involviert?
Wenn ich jemanden um einen Beitrag bitte, behandele ich diesen Beitrag mit dem äußersten Respekt (abgesehen von Klarinettisten natürlich). Es gibt keine genauen Regeln, nach denen wir arbeiten, aber für gewöhnlich läuft es so: Ich nehme etwas allein auf und komme zu dem Schluss, dass es sehr gut oder absolut beschissen ist. In beiden Fällen rufe ich dann Louis und wir bearbeiten den Track zusammen (oder erneuern ihn, falls er zu grottig ist, um etwas damit anzufangen, oder, was selten vorkommt, akzeptieren den Scheiß komplett). Dann verschwindet Louis, weil er die Nase voll von mir hat, und ich arbeite ein bisschen allein weiter. Ab diesem Punkt bleibe ich entweder dran, bis der Song fertig ist, oder ich verändere alles derart radikal bis zur Absurdität, so dass es wieder beschissen ist und Louis wieder zurückkommen und alles noch einmal neu aufrollen muss. Wie auch immer, sobald der Track als fertig erachtet ist, schicke ich ihn zu Peter, der mit dem Mixen beginnt. Das ist einer der inspirierendsten Abschnitte, ehrlich – Peter ist ein echter Perfektionist und hört nicht auf, bis er zu dem geplanten Ergebnis gekommen ist. Ich denke, er ist ein Zauberer… Was die anderen Musiker betrifft, gibt es ebenfalls keine klaren Regeln; der Track kann mit einem ihrer Beiträge beginnen (zum Beispiel ein Klarinettenloop von Mr Doria, aus dem ein ganzer Song wurde), oder wir können ihr Spiel später in die Arrangements integrieren. Ich hoffe, ich langweile niemanden, wenn ich das alles beschreibe. Ich komme mir selbst gerade ziemlich langweilig vor. Aber du hast gefragt! Obwohl ich sicher bin, dass du nicht wusstest, dass dies in einer Therapiesitzung enden wird.
Gerade erscheint dein Album „Breaker of Ships“. Was kannst du uns darüber erzählen? Im Vergleich zum Vorgänger scheint es von den Sujets her nicht ganz so konzeptionell ausgerichtet zu sein…
In der Tat, das Album sollte gar nicht konzeptuell werden, aber natürlich gibt es eine Reihe an Themen, die das Ding zusammenhalten. Das wichtigste Thema ist das Streben, oder das Fehlen dessen, und noch grundsätzlicher das Leben, das als reiner Beobachter gelebt wird (sei es aus einer Entscheidung heraus, oder als Konsequenz eines anderen Ereignisses). Der „Breaker of Ships“, das ist hier der Leviathan, der die tiefsten Begierden und Ambitionen des Menschen zum Erlöschen bringt, und der viele Formen annehmen kann, Formen wie Passivität, Prokrastination, Angst oder auch Zerstreuung. In „The Archivist“ geht es um die Energie, die der Erzähler aufspart, indem er sich nicht auf den klassischen Lebensweg einlässt, und so keine grundlegenden sozialen Fähigkeiten entwickeln muss, die man für ein Weiterkommen in der Gesellschaft braucht – all diese aufgesparte Energie verwandelt sich in pure Beobachtung und die Fähigkeit zu archivieren, welche seine Menschlichkeit nach und nach in eine komplexe Datenbank für Informationen verwandelt, die er aus zweiter Hand erfahren hat.
Ähnlich wie das letztjährige „Your’e Mine Again“ treffen hier Songstrukturen auf stark verfremdete Elemente wie Noise, Abstraktes, stark nach vorn gemischte Rhythmen u.s.w. Ich denke, dass das alles mehr oder weniger deinen Vorstellungen entspricht, aber hattest du vielleicht auch die Absicht, dass die Musik generell nicht ganz so leicht verdaulich gerät?
Nicht mit Absicht. Unsere Tracks sind tatsächlich eine Illustration dessen, was ich als Hörer mag. Ich glaube, ich kombiniere gerne barocke Arrangements mit dem Gebrumme und dem Rauschen des Industrial, ich denke, es knüpft an meine Zeit als Kind an, als ich mit meinem Vater (einem Tenor) auf Tour unterwegs war. Die endlose Folge von Opern und Flughäfen…
In dem Zusammenhang dachte ich an das berühmte Brecht-Wort „Glotzt nicht so romantisch!“ Würde es dich enttäuschen, wenn Hörer Songs wie „Juliet of the Spirits“ einfach als ein simples Idyll betrachten würden?
Nein, nein. Wenn die Musik erst einmal veröffentlicht ist, gehört sie mir nicht mehr wirklich und es kann mich nicht ärgern, was Leute damit machen. Jeder hat die Freiheit, mit unserer Musik das zu verbinden, was am ehesten zu ihr oder ihm passt. Es wäre prätentiös und unangenehm von mir, würde ich meine Songs als etwas tiefgründigeres erachten, als sie in Wirklichkeit sind. Es ist ziemlich erwartbar, dass „Juliet“ vordergründig als ein eskapistisches Idyll rezipiert wird. In meinem Fall gibt es oft so etwas wie eine Botschaft oder ein Thema während des Entstehungsprozesses, aber es verändert sich ein Stück, wenn es erst einmal die Hörer erreicht, und für mich ist das in Ordnung, es entsteht etwas neues, etwas, das mehr über den Hörer als den Verfasser sagt.
Es scheint als hättest du ein Faible dafür, Elemente aus verschiedenen Musikstilen zu zitieren und mit einander zu verbinden. Blues, Chanson, Einflüsse aus Krautrock, Prog, Electronica und vieles mehr – zumindest habe ich beim Hören immer weider solche Assoziationen. Passiert das einfach, oder agierst du auch quasi als „Fan“, der sich gerne auf seine Lieblingsmusik bezieht?
Hmm, um ehrlich zu sein, bin ich nicht sicher. Ich habe mich zumindest niemals bewusst auf irgendwas bezogen. Aber es ist ja nicht wirklich einzuschätzen, wie stark ich durch meine Einflüsse geformt worden bin. Wenn du Elemente aus verschiedenen anderen Sachen heraushörst, die ich mag, ist das für mich etwas ganz natürliches, und ich komme damit vollkommen klar. Doch nein, Referenzen – bewusste – sind nichts, was ich interessant finde.
Ok, ich dachte auch bei dem schon erwähnten „Juliet of the spirits“ an den gleichnamigen Film von Fellini. Was für eine Story ist das, und wie verhält sich das nachfolgende „Juliet of the Bones“ dazu?
Die Lyrics von „Juliet Of The Spirits“ – und der Titel – wurden von Jean Mathoul (der Mann hinter dem 48 Cameras-Kollectiv) geschrieben und gewidmet. Er wurde vor kurzem sechzig und der Song handelt davon, wie er Großvater einer kleinen Juliet wurde. Mein eigener Beitrag ist erst später zu hören, auf „Juliet Of The Bones“, das tatsächlich von der Demystifikation eines Subtextes handelt, aber nicht auf den Film bezogen. Alles zwischen Geburt und Tod kann in der Rubrik „Andere Neuigkeiten…“ untergebracht werden, für jeden, denke ich; Geburt und Tod allerdings gehören auf die Titelseite, für die, die involviert sind. „Juliet Of The Bones“ zieht einfach eine Parallele zwischen Jeans und meinem Leben an einem ganz bestimmten Moment, dem Moment, wo er Großvater wurde und ich nicht. Diese beiden Stücke sind tatsächlich sehr persönlich, einer für Jean und einer für mich, sie sind ein bisschen eine Ausnahme, denn normalerweise lasse ich so etwas nicht zu; dennoch, ich fand das notwendig, da der Rest des Albums diverse menschliche Gewohnheiten beobachtet und analysiert, in einer nicht urteilenden Art und Wise, natürlich, aber dennoch… Ich musste mir die Hände also auch schmutzig machen.
Viele deiner Songs basieren auf Akustikgitarren, und in der Vergangenheit hast du mit einigen Musikern mit Folk-Hintergrund zusammengearbeitet. Als diverse „Präfix“-Folksparten vor einigen Jahren hip waren, hattest du da einen Bezug zu?
Nein, das liegt nur daran, dass ich irgendwann 2008 eine Gitarre in die Hand nahm, unmittelbar nach „Spin Vows Under Arch“. Als ich das Album zuende brachte, wurde ich des Experimentierens mit Drones, Weingläsern und abstrakten Soundscapes immer mehr überdrüssig und wollte der Songform eine ernsthafte Chance geben. Die Gitarre war eine gute Art des Neuanfangs und ebenfalls ein guter Test im Songwriting. Ich erinnere mich nicht mehr, wer sagte „wenn ein Song immer noch funktioniert, wenn er mit einer einzelnen Gitarre und Vocals gespielt wird, dann ist es ein guter Song“, aber ich merkte (manchmal zu meinem Erschrecken) das diese Feststellung sehr wahr ist.
Auf „You’re mine again“ ging es viel um die absurden Seiten von Liebe und Beziehungen, und dein Zugang zu dem Thema war sehr ironisch. Was wäre für dich der wichtigste Grund, niemals Paartherapeut zu werden?
Tatsächlich denke ich, dass ich sogar einen wunderbaren Paartherapeuten abgeben würde! Als Beweis kann ich anführen, dass ich schrecklich darin bin, meinem eigenen Rat zu folgen. Paare sind eine lustige Bestie. Sie haben etwas sehr trauriges und anrührendes an sich. Ich habe beobachtet, dass für gewöhnlich diejenigen Paare wunderbar funktionieren (auch wenn es da keine klaren Regeln gibt, ich gehe da nur nach meinem persönlichen Eindruck), die ihr Zusammensein als eine Art Teamwork begreifen und daran wachsen, im Gegensatz zu denen, die nur an dem Paarformat hängen um sich gegen ihre eigenen Todesangst zu schützen. Ich habe allerdings mehr Sympathie für die zweite Kategorie. Und in jedem Fall darf man niemals über andere Paare urteilen, denn andere Paare folgen einer Logic, die vollkommen fremd ist, radikal unterschieden von der eigenen.
Teile des Albums erscheinen wie ein großes Panorama der verstörenden und unvorhersehbaren Seiten der Liebe, der Erotik und des Ringens um Attraktivität. Du sagtest in einem anderen Interview, dass deine Songs nie autobiografisch sind, aber gab es trotzdem so etwas wie eine basale Idee oder einen Impuls, der dich zu der Beschäftigung führte?
Ja, du hast mich erwischt. Du hast natürlich recht, auch wenn die Songs nicht strikt autobiografisch sind, ist es der Impuls dahinter oftmals doch. Es gab viele Funken. Der stärkste war eine Vision von meinem fast eingeschlafenen Stiefvater um zwei Uhr nachs, auf einer Wohnzimmercouch vor einem Fernseher, in dem ein Aerobic-Kurs lief. Der Ton war leise gestellt. Meine Mutter kommt herein und beginnt wie wild zu schreien „Hör auf, in meinem Haus Pornos zu gucken“. Er war unfähig, sich zu verteidigen. Er wurde hinausgeworfen und musste fast eine Woche lang in seinem Auto schlafen. Doch etwas noch unglaublicheres passierte: Als er rausgeworfen wurde, drückte meine Mutter ihm eine große Mülltüte in die Hand und sagte zu ihm (immer noch schreiend): „Und bitte nimm den Müll mit, wenn du gehst“. Und das tat er. Er trotzte jeder Art von Logik auf jedem erdenklichen Level. Ich kann Leidenschaft verstehen, aber Leidenschaft zusammen mit den basalsten Alltagsaufgaben war etwas, das ich so noch nicht gesehen hatte. Es war außergewöhnlich! Und natürlich gab es später auch bei mir diese halb-romantisch- halb-alltäglichen Übungen, die ich so sehr vermeiden wollte – es ist unvermeidlich, vielleicht genetisch, aber auch sehr anrührend und witzig und ein bisschen traurig.
Es gibt eine Reihe an Videoarbeiten zu deinen Songs. Da die Darsteller auch Teil der „Familie“ sind, siehst du die Clips als einen integralen Teil deiner Arbeit?
Ja, irgendwie schon. Ich arbeite an unseren Videos nur mit meinem sehr guten Freund Rodolphe Gonzalès, der in Montreal lebt und ein wichtiger Teil meines Lebens in Kanada ist, wenn immer ich da bin. Wir haben versucht, zusammen Musik zu machen, aber das funtionierte nie wirklich und die Abende ertranken immer in billigem Bier und endlosen, ermüdenden Gesprächen über den trostlosen Zustand von allem. Das Kurzfilmformat allerdings scheint dagegen sehr gut zu uns zu passen. So gründeten wir Bouc Astral Productions für unsere Kurzfilme und Videoclips. Um ehrlich zu sein, denke ich nicht, dass wir ein Publikum haben. Der Clip zu „You’re Mine Again“ wurde allenfalls zur Kenntnis genommen, und ich denke unser Film “La Fête” hatte gerade mal um die 67 Aufrufe für ein paar Jahre. Vielleicht ist unser Humor das Problem, keine Ahnung.
Dabei ist derade das episodische Video zu „You’re mine again“ wirklich gut mit den Männern und Frauen, die sich ständig verpassen und missverstehen. Während sich die Frauen stehengelassen fühlen, verweilen die Männer in ihrem eigenen Kosmos, pflegen ihre Depressionen, warten ab oder verbringen ihre Zeit damit, sich für die Frauen auf irgendeine Art „fit” zu machen. Da die Figuren so liebenswürdig sind, würde man ihnen gerne helfen. Was denkst du, ist ihr Problem?
Nun, wir selbst sind das Problem. Jede Interaktion zwischen den Charakteren im „You’re mine again“-Video scheint absolut unmöglich – doch sogar innerhalb von Beziehungen findest du manchmal Leute, die in Parallelwelten leben mit ihren eigenen Projektionen und Illusionen. Fast alle Darsteller in dem Video zählen zu meinen ältesten Freunden, manche von ihnen kenne ich schon um die dreißig Jahre. Ich sah sie kämpfen, streben, verlieren, ihre Ziele erreichen, wieder verlieren, viele Male – so wie sie mich. Das Video sollte sowohl ein Schnappschuss von den Kämpfen einiger Personen (mich eingeschlossen) sein, und in einem weiteren Sinne ein Statement über die Beziehung zwischen Männern und Frauen, aber als Karrikatur natürlich, eine simple, freundliche und liebevolle. Es freut mich sehr, dass du sagst, du findest die Figuren liebenswürdig – eine meiner größten Ängste war, dass man das Video als verurteilend verstehen könnte, was es nicht ist.
Du erwähntest einmal, dass du Thomas Bernhard sehr schätzt. Ich bin neugierig, welche Texte du von ihm besonders magst…
Ich denke, es ist der Text, durch den ich Bernhard erst kennenlernte : „Der Keller. Eine Entziehung“. Ich erinnere mich, dass ich schon von dem Titel absolut beeindruckt war, und wie ich noch bevor ich die erste Seite umdrehte, auf den Einband starrte und über die Idee dieser „Entziehung“ meditierte, denn das ist ein Konzept, das mich schon immer stark fasziniert hat. Der abgeschlossene Raum, der Rückzug hinter eine verschlossene Tür, eine Art von Tätigkeit innen, eine andere draußen, und beide vollkommen von einander getrennt und inkompatibel. Ich hasse es, Türen aufzulassen, wenn ich mit etwas wichtigem beschäftigt bin, offene Türen erfüllen mich mit einem unkontrollierbaren, animalischen Grauen. Mich in einen abgeschlossenen Raum einzufügen, gibt mir dagegen das Gefühl, dass alles möglich ist, ganz egal, wie diejenigen auf der anderen Seite der Trennung leben und agieren. Aber zurück zu Bernhard, ich fand viel Trost in seinen Schriften, Echos meiner eigenen gelegentlichen Misanthropie und repetitive Gedankenmuster. „Verstörung“ ist wahrscheinlich mein zweitliebstes Bernhard-Buch.
Noch eine Frage zu „Breaker of Ships“ – der Track „Ghost Rain“ beinhaltet eine erschütternde Rede des australischen Aktivisten Philip Wollen über Tierausbeutung in der Fleischindustrie. Ich weiß nicht, ob Schlachthäuser mit Glaswänden die Menschen nicht doch eher zu einem Umweg bewegen würden, aber ich denke, dass eine Ansprache wie die Wollens Menschen wirklich bewegen kann, wenn sie nur gehört werden würde. Wolltest du einfach einen Teil dazu beitragen, oder gibt es einen spezielleren Bezug zum Album?
Ein bisschen beides. Es ist ein sehr dunkles Album, denke ich, und während des Abmischprozesses wollten Peter und ich mit einem Hoffnungsschimmer abschließen. Er kam mit dem Instrumentalstück „Ghost Rain“, welches er, wenn ich es richtig erinnere, aus Teilen des restlichen Albums zusammengeschustert hatte, indem er verschiedene seltsame Effekte und magische Techniken benutzte, auch steuerte er noch ein paar Feldaufnahmen und sein tibetisches Becken bei. Ich fand das Stück sehr schön und sah darin einen passenden Abschluss, weil es musikalisch und lyrisch so sehr strahlte. Also ja, es gibt eine Verbindung zum Album in dem Sinne, dass – ich zitiere Wollen – „eine andere Welt möglich ist“, trotz der dummen Tendenz des Menschen, von Jahr zu Jahr schlimmer zu werden, aber für mich geht es natürlich auch darum, die Botschaft zu verbreiten, wenn ich kann. Ich glaube, Vegetarismus und Veganismus sind unmittelbare, praktikable Lösungen für ein sehr großes Problem. Ich denke aber auch, dass es eine Botschaft ist, die sorgfältig und dezent verbreitet werden sollte, denn den Konsumenten mit Schuldgefühlen zu belasten, führt oft zu einem gegenteiligen Effekt. Der menschliche Verstand wird heute von überflüssigen externen Stimuli bombaridert bis zur Erschöpfung, und so kann ich verstehen, dass Tierrechte für einige wie ein zweitrangiges Problem erscheinen mögen. Es ist unvorteilhaft, aber mit dem richtigen Schlüssel im richtigen Schloss, wenn ich diese triviale Analogie verwenden darf, kann eine positive Veränderung, vielleicht, in Bewegung gebracht werden.
Zum Schluss natürlich die obligatorische Zukunftsfrage.. Gibt es ein paar nennenswerte Punkte in deinem Kalender? Können wir mit ein paar Liveshows rechnen, wenn das Album draußen ist?
Es soll später im Jahr eine neue EP herauskommen, außerdem ist eine Kollaboration mit Empusae (ein Vollzeitalbum diesmal) im Entstehen. Was Liveshows betrifft, ja, absolut. Wir werden mit einem kleinen Duoformat anfangen (nur Louis und ich) und werden Songs von den letzten Alben spielen, aber auch etwas älteres Material (alles arrangiert, versteht sich). Außerdem suchen wir Musiker in Berlin, von daher – wenn jemand das liest und Lust hat, uns zu buchen oder bei uns mitzumachen, der kann sich gerne über unsere Webseite mit uns in Verbindung setzen.
Und Uwe – allerbesten Dank für deine Fragen!
(U.S.)
Fotos: Lysandre Cottret