Die Vorstellung darüber, was eine Wissenschaft ist, unterliegt ständigen Veränderungen, und was heute als Irrlehre, Satire oder auch Kunst gelten würde, mag in einer anderen Epoche dem gängigen wissenschaftlichen Diskurs entsprochen haben – und umgekehrt. Das vermutlich im Norditalien des 13. Jahrhunderts entstandene Voynich-Manuskript, dessen Faszinosum jüngst in einem audiovisuellen Werk namens „Lympha Obscura“ eingefangen wurde, ist derart an der Grenze dessen angesiedelt, was heute als Outsider Art gelten würde, dass man nach wie vor nicht klären kann, mit was für einem Text man es zu tun hat.
Ich möchte mein Halbwissen hier nicht per Suchmaschine aufhübschen, will aber alle, die bisher nur Bahnhof verstehen, kurz ins Bild setzen: Bei dem nach einem ehemaligen Besitzer benannten Voynich-Manuskript handelt es sich um eine illuminierte (also illustrierte) Handschrift, in der anscheinend eine ganze Reihe an Wissensgebieten in einer bisher nicht entschlüsselten Schrift und wohl auch Sprache abgehandelt werden. Nur den alchemistisch anmutenden Zeichnungen ist zu entnehmen, dass es sich u.a. um anatomische, botanische, astronomische und pharmazeutische Abhandlungen handeln muss. Über die Jahrhunderte ist der Text durch einige gelehrte und auch mächtige Hände gegangen, war lange verschollen und ist heute im Besitz einer Universität. Wie zu erwarten ranken sich etliche Mythen um seine Entstehung und seinen Inhalt.
Am „Lympha Obscura“-Projekt sind einige beteiligt, die unseren Lesern bekannt sein sollten – einer so sehr, dass er sich gleich „Der Bekannte“ nennt, nämlich der Römer Flavio Rivabella alias Der bekannte Postindustrielle Trompeter, der zusammen mit seiner Gattin Arianna (XxeNa) den Nukleus des Projektes bildet. Das beiliegende Buch enthält Fotos des ebenfalls in Rom ansässigen Künstlers Daniele Pinti. Der Bezug zum Stoff findet sich genau da, wo Musik und Fotos ihre Einheit demonstrieren, denn in beidem steht das Transformieren, die Metamorphose im Zentrum des Geschehens. In Pintis Bildern steht der weibliche Körper und florale Elemente im Fokus, beide Elemente bilden eine Einheit, die Fotos wirken wie Momentaufnahmen einer Metamorphose, bei der kaum sichtbar ist, wer sich in was verwandelt. Auch das Setting ist von der Dynamik des Wandels geprägt, zeigt Züge eines ästhetisierten Verfalls und wirkt vital in seinen provisorischen Arrangements.
In der Musik erfolgt das Transformierende im Zeitlichen. Wie bei Arianna und Flavio nicht anders zu erwarten, handelt es sich um industrielle Klangkollagen, wie sie im Werk der beiden über die Jahre immer geschliffener ausfielen. Auch hier geraten sie zu einem Beispiel an virtuos gestalteter Soundart. Verzerrtes, Rhythmisches, Dichtes, Abgehaktes, Schleifendes, gelegentlich Flavios Markenzeichen, seine sich mal smooth, mal kakophonisch zu Wort meldende Trompete und nicht zuletzt die Stimmen diverser Beteiligter – all dies nimmt stets seinen Anfang in kleinen, nebensächlich wirkenden Motiven und drängt sich an unerwarteten Stellen in den Vordergrund, um ganz sicher nicht lange dort zu verweilen.
Immer wieder beschleicht einen das Gefühl, dass sich aus dieser surrealen Mixtur etwas zusammenbraut, das unheilvoll sein könnte, in jedem Fall aber seinen schaurigen Reiz hat. Ob die Energie der Musik sich den organischen (oder dem Organischen nur nachempfundenen?) Komponenten dankt, die sich zwischen Lärm, Beat und Vogelgezeter abzeichnen, oder doch eher der Dynamik? Man weiß es nicht, und vielleicht sollte man bei einem solchen Konzept auch eher mit einer Frage als mit einer Antwort schließen. (U.S.)
Label: Naked Lunch Records