„I’m committing a crime against nature“ sang Marc Almond in dem Stück „In Bluegate Fields“, das extra für ein Konzert in einer viktorianischen Musikhalle unweit der so bezeichneten Gegend Londons geschrieben wurde. In diesem Song ging es – wie nicht selten in den Texten des Sängers – um dekadente Auschweifungen als Flucht aus einer profanen Alltagsexistenz, und er lehnte sich stark an Episoden aus Oscar Wildes „The Picture of Dorian Grey“ an. Dieses berühmte Buch wäre vielleicht nie so entstanden ohne den Einfluss, den ein anderer, damals noch populärerer Roman, auf Wilde ausübte, nämlich „A Rebours“ aus der Feder des Franzosen Joris-Karl Huysmans, das schon kurz nach seinem Erscheinen 1884 in allen europäischen Bohèmekreisen die Runde machte, worauf kurze Zeit später noch der berüchtigte „satanische“ Roman „Là-Bas“ folgte.
Das Buch, das sich schnell den Ruf als Bibel der Dekadenz einhandelte und im Englischen den Titel „Against Nature“ trug, dokumentiert die Gedanken des jungen französischen Adligen Floressas Des Esseintes, letzter Spross einer alten, nach dem damals naturalistischen Verständnis ausgelaugten Familie. An der Profanheit seiner Generation verzweifelnd, gab er sich eine zeitlang den dekadentesten Ausschweifungen hin, um sich, auch davon bald übersättigt, in die Einsamkeit eines Landhauses zurückzuziehen und sich dort allein allerlei Fetischen, Rauscherlebnissen und überspannten Reflexionen zu widmen.
Während sich Huysmans selbst – und er legt auch seiner Romanfigur einige Andeutungen dazu in den Mund – schon kurz nach der Veröffentlichung von „A Rebours“ und „Là-Bas” zum Katholizismus bekannte und eine mehr und mehr mönchische Existenz führen sollte, hat das Buch selbst eine Menge eher schillernder Figuren inspiriert: Stefan George, George Bataille und zahlreiche Künstler vom Jugendstil bis zum Surrealismus, zeitgenössische Dichter wie Jeremy Reed und im Rahmen der etwas abseitigeren Popkultur letztlich auch jemanden wie Marc Almond, der in den Credits seines aktuellen Albums sogar der Freundin dankt, die ihm vor Jahrzehnten einmal Huysmans’ Buch schenkte. Wer weiß, vielleicht wäre seine Karriere ohne dieses Geschenk gänzlich anders verlaufen.
Zumindest hätte es ohne „A Rebous“ das aktuelle, über Crowdfunding entstandene Album „Against Nature“ nicht gegeben, und wie der Titel schon verrät, ist das Werk, das auf einem (bereits in Buchform erschienenen) Libretto von Reed, dem Klavierspiel des Griechen Othon Mataragas und natürlich dem Gesang Almonds basiert, eine einizge Hommage an Huysmans’ Buch und seinen skurrilen Helden. In den Texten, die Almond vielleicht noch etwas überdrehter und leidenschaftlicher singt als sonst, werden sämtliche Register dessen gezogen, was die Figur Des Esseintes umtreibt: das verbrauchte Blut der alten, nicht mehr frischen Adelsfamilie, das Gefühl, in einer falschen Zeit geboren zu sein, die Langeweile, der blasierte Abscheu, den der Dandy zu Huysmans’ Zeiten unter dem Begriff des „Ennui“ fasste – der Opener trägt diesen Titel und referiert ganz prägnant den ersten Teil des Romans, in welchem der Ich-Erzähler sein Leben resümiert bis zu dem Zeitpunkt, als er sich entschloss, vollends in seiner eigenen künstlichen Welt aufzugehen.
Eine besonders beeindruckende Passage kommt auch in Reeds Text zu “Foggy Harbour Day” zur Sprache, nämlich die imaginäre London-Reise des Helden, die in einer einfachen Pariser Kaschemme mit englischen Seeleuten endet. An der Stelle hat Des Esseintes seine verfeinerte Imaginationskraft endgültig unter Beweis gestellt, denn die schnöde Realität kann ihm die Vorstellung, wirklich in London zu sein, kaum mehr verderben – kaum, denn letztlich endet im Buch auch diese Episode in einem Lamento über die Begrenzungen der Realität, statt die Entgrenzug schlicht zu feiern, wie Almond, Reed und Mataragas es hier tun und somit den magischen Charakter einer solchen Fantasie betonen.
Es ereignet sich viel in “Against Nature”: Rauscherlebnisse mit Absinth, Haschisch und dem psychedelischen Spiel von Farben, die Lust, sich in verschlungenen arabesken Ornamenten zu verlieren, aber auch die Erfahrung, dass doch alles irgendwann im fatalen Schwarz enden muss, das das Album wie ein eben nicht roter Faden durchzieht – “black flowers please”, möchte man an einigen Stellen zitieren. Die krampfhaften Versuche, der Erzfeindin Natur, von Hysmans die “große Schwätzerin” genannt, zu zeigen, was wahre Schöpferkraft heißt – Reed und Almond besingen die kaum lebensfähigen, hybriden Pflanzen des Romanhelden, die berühmte Schildkröte mit dem juwelengespickten Goldpanzer, die schon bald an ihrer künstlichen Schönheit verenden soll. Überhaupt schätzt Des Esseintes im Künstlichen auch das Tote, der rührenden Neigung, Bücher als Freunde zu betrachten, steht die Tendenz entgegen, Menschen generell durch Dinge zu ersetzten oder als Dinge zu betrachten; nicht zuletzt auch die hier wiederholt besungene Lust an allem Kranken.
„Against Nature“ ist eine Platte, auf der Inhalt und musikalische Umsetzung besonders gut übereinstimmen. Almonds Gesang fehlt diesmal das Rührende und bisweilen Sentimentale, das vielen seiner neueren Veröffentlichungen ein zwispältiges Gepräge verpasst, und weicht einer Überspanntheit, die das lustvolle Suhlen in verzweifelten Ausschweifungen bestens illustriert, und da Almond sich immer noch nicht wie ein über fünfzigjähriges Sänger anhört, funktioniert die Umsetzung heute nicht weniger gut, als es vor dreißig Jahren der Fall gewesen wäre. Das musikalische Gewand aus Piano und Streichern – nur beim finalen „Liturgy“ kommt ein Frauenchor hinzu, der dem Song das Flair eines 70er Jahre-Filmscore gibt – akzentuiert Almonds Charisma, ohne zu sehr vom Gesang abzulenken. Mit seinem Klavierspiel irgendwo zwischen Romantik und Avantgarde kehrt Othon, der sich zuletzt mehr diversen Formen der Elektronik und mystischer Ethnomusik zugewandt hat, wieder zu den Stärken seiner früheren Arbeiten zurück, und man denkt beim melodramatischen Feuer seiner von spontan wechselnden Tempi bestimmten Musik zwangsläufig an sein unerreichtes Debüt „Digital Angel“.
Natürlich ist „Against Nature“ nicht nur eine gelungene Hommag, sondern auch eine stark subjektiv gefärbte Deutung des Franzosen und seiner Romanfigur. Marc Almond ist eine glamouröse Figur und wirkt außerdem wie einer der freundlichesten Menschen auf diesem Planeten. Das konservativ Katholische, das schon in frühen Werken Huysmans’ anklang und nach „A Rebours“ manifest werden sollte, muss daher ebenso ins Hintertreffen geraten wie das oft hasserfüllte Schopenhauer-Minimum, das der Roman auf jeder Seite durchscheinen lässt – beides gelingt schon persönlichkeitsbedingt viel eher einem anderen großen Huysmans-Verehrer, nämlich Michel Houellebecq. Almond, Reed und Mataragas dagegen betonen eher die lustvolle, ästehetisch feinsinnige, libertäre Seite des Romans. Gerade dies macht die Umsetzung so aufregend, inspirierend und sympathisch und letztlich auch zu einem eigenständigen Werk. (U.S.)
Label: Self Released