V.A.: 1961-2014. An Anthology of Turkish Experimental Music

Selten hat man in den Medien hierzulande so viel über die Türkei gehört wie in jüngster Zeit, und ein positives Beiprodukt der nicht immer erfreulichen Schlagzeilen ist der Einblick, den man in die unterschiedlichen Milieus des Landes bekommt. Weitgehend unbekannt ist, dass die Türkei auch eine emsige Szene an experimenteller Musik hat, und gerade Istanbul muss sich in der Hinsicht keineswegs hinter anderen „orientalischen“ Metropolen wie Beirut oder Kairo verstecken. Sub Rosa, die sich seit Jahren der dokumentierenden Aufarbeitung der Geschichte experimenteller Elektronik im Allgemeinen sowie in bestimmten regionalen Einflusssphären widmet, haben nun eine von Batur Sönmez und Erdem Helvacıoglu kuratierte 2CD-Anthologie herausgebracht, die – zwar mit Unterbrechungen – gut fünfzig Jahre türkischer und türkischstämmiger Klangkunst abdeckt.

Die Geschichte dieser Einflusssphäre (Sub Rosa benutzt diesen Begriff bewusst in Abgrenzung zu jedem Nationalismus, auch um das Konzept einigermaßen offen zu halten) reicht v.a. dank zweier Personen so weit in die Vergangenheit zurück, denn die aus Ankara und Istanbul stammenden Komponisten Bülent Arel und Ilhan Mimaroglu experimentierten bereits in den 60ern und 70ern mit Tape Loops und Synthesizern. In ihrer Heimat wurden sie (von Spezialistenkreisen abgesehen) erst eine ganze Generation später wiederentdeckt, denn ihr Wirken war eher international ausgerichtet, beide arbeiteten u.a. mit Edgar Varese, Mimaroglu war am Soundtrack zu Fellinis „Satyricon“ beteiligt.

Ein Auszug aus einer liturgischen Komposition von Arel eröffnet dann auch die erste CD: Urige Schleifensounds von futuristischer Schönheit, die der Stille zwischen den schrillen Klangvariationen viel Raum lassen, implizieren eine Gefühl räumlicher Weite. Die ganze Scheibe ist verschiedenen Formen der Elektronik gewidmet: programmierte Noisesounds von sehr offener Struktur, die auf Samples und Field Recordings beruhen oder so klingen (u.a. Batuhan Bozkurt, Korhan Erel), digitale Elektroakustik mit technoiden Ansätzen (Alper Maral), hypnotischer (Batur Sönmez) und vertrackter (Koray Tahiroglu) Lärm sowie improvisiertes Spiel mit Sounds, das auch akustische Instrumente anklingen lässt (u.a. Nilüfer Ormanl, Cenk Ergün, Erdem Helvacoglu). Abgerundet wird die erste Hälfte vom cinematischen Ambient des zweiten Altstars, Mimaroglu.

Die zweite CD ist insgesamt konzeptueller angelegt, einige Titel wie „Democracy Lessons“ von Asaf Zeki Yüksel, Osman Kayatazoglus „The Monopoly of Victim Status“ und „I want to be a suicide Bomber“ von der Gruppe SIFIR (einer der wenigen Beiträge mit Vocals) implizieren unmittelbare Gesellschaftskritik, wobei auch hier primär die Klanggestalt(ung) im Zentrum steht. Die kann besonders rau ausfallen, wie bei dem Track des in Italien und Deutschland ansässigen Utku Tavil, der mit wildem Improv-Drumming und lärmigen Feedbacks ein wahres Inferno entfacht. Vieles ist samplebasiert wie beispielsweise die Beiträge von Cem Güney und Mors, z.T. überraschend akustisch wie der Track von Volkan Ergen oder warmer Ambient, wie ihn Tuna Pase produziert. Dazu passen ganz gut an Postrock gemahnende Klangbilder und latent songorientierter Synthie-Ambient mit Film-Samples wie der Track von Mete Sezgin, der vielleicht die unterschiedlichsten hier vertretenen Qualitäten in sich vereint.

Insgesamt ist die Compilation ein würdiger Nachfolger der vor einigen Jahren erschienenen Anthologie über die experimentelle Musik aus China, und als Sonderreihe ergänzen die Sammlungen zu bestimmten Einflusssphären die ältere Reihe zur Musikgeschichte experimenteller Elektronik um interessante Facetten. Der Verzicht auf Exotismus ist dabei ebenso erfreulich wie das Herauspicken von Regionalkontexten, die qualitativ Solides bis Hochwertiges zu bieten haben und trotz allem noch nicht abgegrast sind. Die hier getroffene Auswahl deckt eine gut ausbalancierte Bandbreite sowohl an akademisch geprägten als auch in DIY-Kontexten gewachsenen experimentellen Musikarten ab und macht neugierigdarauf, noch mehr von all dem zu entdecken, was es so an unkonventioneller Musik in dieser Region gibt. (U.S.)

Label: Sub Rosa