ANEMONE TUBE / POST SCRIPTVM: Litaniae Mortuorum Discordantes

Anemone Tube und Post Scriptvm verbindet einiges, z. B. die Arbeit mit obskuren, oft stark verfremdeten Field Recordings und ein Händchen für dunkle imaginäre Räume. Entwirft der deutsche Musiker Anemone Tube weiträumige Landschaften, so habe ich bei Post Scriptvm immer die Assoziation eines verwinkelten, labyrinthartigen Gebäudes von kaum einschätzbarer Größe. Post Scriptvm scheinen stark von den klassischen Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts inspiriert, ihre sorgsam dosierte Kulturkritik ist philosophischer Art. Anemone Tube lässt ein Interesse an der Dekadenz erahnen, ebenso einen deutlich spirituellen Ansatz.

Nachdem sich ihre Wege schon das eine oder andere mal kreuzten – so auf dem zweiten Epicurean Escapism-Festival und der begleitenden Compilation – kam es nun zu einem ersten Split-Release. Die sechs Tracks der LP sind – auf eine schalkhafte Art, die man v.a. bei Anemone Tube schon immer ahnte, aber bisher nie so direkt aus der Musik heraushören konnte – den „Liebhabern von seelenzermalmender, auf Dissonanzen basierender Beerdigungsmusik zur geistigen Ergötzlichkeit“ gewidmet, der Titel bezeichnet eine Art Genre bzw. einen rituellen musikalischen Ansatz, den es bis zum Barock in der westlichen Sakralmusik tatsächlich gab, und der in einem quasi kathartisch-entschlackenden Ausleben negativer Gefühlszustände bestand. Später, im sogenannten Zeitalter der Vernunft, das die eigentlich klassische Musik hervorbrachte (und im weiteren Verlauf ein Interesse an außerwestlicher Musik und das Entstehen früher Subkulturen nötig machte), erhielten solche Ansätze mehr und mehr den Makel des Suspekten und gerieten in Vergessenheit. Es gibt wohl einen Roman, in dem der (stark fiktionalisierte) junge J. S. Bach sein Interesse an den düsteren alten Litaneien mit didaktischer Härte ausgetrieben bekommt.

Die beiden Acts haben zwar nicht vor, diese Tradition wiederzubeleben, zu stark bewegen sie sich dazu im Feld postindustieller Experimentalmusik, doch stimmungsmäßig scheint man stark von dem Phänomen inspiriert. Interessant ist, wie sehr sich die jeweiligen Handschriften beider, die auch hier ähnlich vorgehen, voneinander abheben. Würde man eine digitale Version des Albums im Shuffle-Modus abspielen, wüsste man immer schon nach wenigen Sekunden, welche Band man gerade hört.

Die Dunkelheit der Anemone Tube-Stücke ist sicher die schwerer greifbare, denn auf ihre hier besonders ruhige Art haftet ihr nichts Negatives an, und doch sind kaum Lichtschimmer zu finden, auch da nicht, wenn die Dröhnung sich in kosmische Entrücktheit ausweitet (ich musste beim Opener „Myth and the Reltion to the World“ an das finale „Evangelium der Weltharmonie“ auf dem „Vortex“-Tape denken). Freilich, nach den hellen Ambientflächen und dem erdigen Dröhnen zu Beginn kommt genug Abseitiges zum Zug: zur Unkenntlichkeit entstellte Stimmen, Metallscheppern und Drones so rau wie ein Nagelbett v.a. im die erste Seite abschließenden „Irruption of the Whore“, das mit Gongs und Synthies allein viel entspannter geklungen hätte. Und dennoch hat die apokalyptische Patina, die alle drei Stücke überzieht und einhegt, etwas Versöhnliches, nimmt all die Komponenten und die Hörer mit auf eine Reise, bei der man sich geerdet und schwebend zugleich fühlen kann. Nicht jeder bekommt das so hin.

Post Scriptvm dagegen sind Rebellen gegen die Unerträglichkeit eines falschen, benommenen Seins, und dementsprechend klingt ihre Musik um einiges aufgewühlter, erscheint als ein Aufbegehren disparater und disharmonischer Komponenten. Wenn ihre dröhnenden Klangteppiche von dumpfen Detonationen und unruhigen Schleifgeräuschen durchdrungen sind, dann treten diese ganz deutlich hervor, und letztlich erscheinen alle Komponenten – Sprachsamples und alte russische Gesänge, fallende Metallteile, blubbernde Synthies und Rhythmen, die sich nach und nach in ihre Bestandteile auflösen, Nurse With Wound-artiges Tremolieren – eher exponiert als integriert. Durchweg bleibt ein Eindruck von Spannung bestehen, eine alarmierende Stimmung, die ständig das Gefühl vermittelt, kurz vor einem Ausbruch zu stehen.

Ein Konzept, zwei Ansätze, ganz nah beeinander und doch ganz unterschiedlich in der Wirkung – so wünsche ich mir ein gutes Split. Nach konzeptionell sehr dichten und von der künstlerischen Aussage her sehr ernsthaften Alben wie Anemone Tubes „Golden Temple“ und Post Scriptvms „Benommenheit“ hat es sogar etwas augenzwinkernd Selbstironisches, scheint mit dem düsteren Outsider-Gestus seiner Macher zu spielen. Trotz allem hat es alles, was ein Release dieser Acts braucht. Das „Oratorium“, so heißt es, sei zur Aufführung in der Kirche bestimmt, und ich denke doch mal, das sich das über kurz oder lang umsetzen lässt. (U.S.)

Label: The Epicurean / La Esencia