V.A.: Midnight Radio – Noir Jazz

Seit Jahren sind Begriffe wie diese im Umlauf: Doom Jazz, Dark Jazz, Jazz Noir und wie man diese dunkle, atmosphärische Musik nächtlicher Highwayfahrten sonst noch nennen mag. Ist dieser Zeitlupengroove, diese entspannt-fatalistische Abgeklärtheit wirklich Jazz oder doch eher eine originelle Spielart des Dark Ambient, angereichert mit Bauformen aus Filmscores, die natürlich irgendwann einmal Jazzwurzeln hatten? Fakt ist, dass das, was Angelo Badalamenti in zwei Twin Peaks-Stücken und Jarboe mit den Swans in einigen Tracks vorgemacht haben und was bei Pionieren wie Bohren & der Club of Gore zu einem veritablen Stil herangewachsen ist, zu den interessanteren Hybriden des neuen Jahrtausends zählt, zumal die vielen Nachtschattengewächse, die da aus den Böden urbaner Verfallsorte sprießen, durchaus von coolen Fatalisten wie Miles Davis und Chet Baker und von smoothen Romantikern wie Grover Washington jr. gelernt haben.

Zum dreijährigen Bestehen einer rührigen Facebook-Gruppe haben die eher für sleazigen Powernoise berüchtigten Signora Ward Records vor kurzem diese nach einem Bohren-Album benannte Compilation herausgebracht, auf der einige bislang wenig bekannte Vertreter der zweiten Generation des Dunkeljazz vertreten sind. Epigonaler Abklatsch? Keineswegs, und sollte die Sammlung den Standard solcher Musik repräsentieren, dann zeigt dies, dass das Genre noch lange nicht blutleer ist.

Von The Orchestra of Mirrored Reflections höre ich hier zum ersten mal. Das Projekt ist mit zwei Konzertmitschnitten vertreten, der neblige Livesound gibt dem schlaftrunkenen Saxophonspiel etwas zusätzlich Schwüles, unweigerlich denkt man an einen Film, der mit einem verkatert aufwachenden Antihelden beginnt, auf den der Schatten einer schiefhängenden Jalousie fällt – Klischeealarm? Nur für Spaßbremsen, denn so soll es im Dark Jazz eben sein, dessen nostalgischer Filmbezug auf die scharze Serie, auf Fritz Lang, Hitchcock und zum Teil auch den Giallo immer auch Raum für subtilen Witz lässt. In „Midnight Park“ zeigt sich die Band von ihrer etwas experimentelleren Seite, Acts wie die polnischen K. und Monopium hätten hier als weiterer Abweg in die Geröllhalden der Soundbrocken gepasst. Berohlich wie ein Vamp auf geschmeidigen Nylons schleichen sich Trigg & Gusset heran, ihr Stück „Cardium“ mit seinem tief gespielten Tenorsax zieht den Hörer in dicken Morast. Ähnlich lustvoll lässt es sich bei Manet und ihrem stylischen Fender Rhodes zugrunde gehen, die fast besinnlichen The Sarto Klyn V betören mit den sanften Tönen von Sax und Gitarre, das Miles Devils Quartet entwirft eine entrückte Szenerie in Norma’s Coffee, Vainoras And The Altar Of The Drill zaubern schleppenden Doom auf dem Xylophon, und gegen die fast komatösen Owl Rave wirken nur deren eigene unerwartete Rhythmen.

Derangierter, atonaler dagegen Nyctophiliac und das (Edgar C. Ulmer huldigende) Detour Doom Project. Tellef Øgrim & Anders Berg setzen dem mit einem kratzigen Spannungsmacher die Krone auf und präsentieren Jazz Noir an der Grenze zum Horror. Heraus stechen Joel Fausto & Illusion Orchestra mit einem Vokalstück, sie lassen mit ihrem griffigen Gitarrensound über glühendem Dröhnen einen phlegmatisierten Link Wray (und somit auch ein bisschen Heroin in Tahiti) anklingen. Ebenso Macelleria Mobile di Mezzanotte, die wahrscheinlich bekannteste Band der Auswahl und mit dem Label nicht ganz unverbandelt, die im angemessen nihilistischen Ton über eine (natürlich tragisch verlaufende) „Love Affair“ sinnieren. Zuguterletzt No Fair Lady, Gerüchten zufolge aus dem Herzland des deutschen Darkjazz, die eine anrührende Klavierpassage mit dunklem Dröhnen und fatalen Saxophonparts zusammenprallen lässt und den Hörer auf ein seltsames Stimmungskarusell mitnimmt.

Eine gute Stunde “Protestsongs gegen die Teilnahmslosigkeit”, wie Bohren mal ihre Song ankündigten. Schön ist bei “Midnight Radio”, dass man den Sampler wie ein Album hören kann, denn die Variation in den Stilen der einzelnen Beiträge ist genau von der richtigen Größe, um ein spannendes und zugleich angenehm düsteres Narrativ entstehen zu lassen. (J.G./U.S.)

Label: Signora Ward Records