So ambivalent die Aufarbeitung der Person Stalins, seiner Diktatur und der durch ihn geprägte Sowiet-Ära auch ist, ist das Thema Stalin dennoch zunehmend populär und für ganz unterschiedliche Kreise interessant. Zahlreiche Bücher meist kritischen oder schonungslos nüchternen Inhalts erschienen in den letzten Jahren außerhalb Russlands, dazu kommen Filme und sogar Comics. In Russland ist die öffentliche und veröffentlichte Meinung dazu zwiegespaltener. Gab es hinsichtlich seiner Politik in den Jahrzehnten nach seiner Diktatur (unter Chruschtschow) niedrige und (unter Breschnew) vergleichsweise hohe Konjunkturen, avancierte Väterchen Stalin spätestens um die Wendezeit zu einer eher mythischen Figur.
Neben jährlich stattfindenden Totengedenkfeiern stehen der vermehrte Bau von Denkmälern und die identitätsstiftende Verklärung als notwendige historische Weichenstellerfigur und Held des großen vaterländischen Krieges – so, als würde der Sieg über den auch expansionistischen Terror der Nazis ausreichen, um die Verdrängung der Leichen im eigenen Keller zu rechtfertigen. Überlebende und Angehörige von Opfern des Regimes sehen sich gleichsam als Opfer eines viel zu lauten Schweigens, durch das Regierung und weite Teile der Bevölkerung ihr sinnstiftendes historisches Narrativ am Leben erhalten wollen.
Genau dieses Schweigen und die verdrängten Untertöne, die den Erinnerungsdiskurs um Stalin zu einem subtilen Palimpsest machen, sind Thema der preisgekrönten Doku „The Red Soul“ der niederländischen Regisseurin Jessica Gorter, in der neben Historikern auch Stimmen von in unterschiedlicher Weise Betroffenen zu Wort kommen. Es handelt sich bei dem Film um eine sehr sachlich nüchterne Annäherung, in dem der Fokus nicht einzig und allein auf der Figur des Staatschefs liegt, sondern die vielfältige Involviertheit einzelner Bürger als Täter, Mittäter, Opfer und Mitläufer in den Blick nimmt. Dies vermeidet eine negative Verkultung Stalins und schafft zugleich ausreichend Anknüpfungspunkte an die Situation der Gegenwart, in der das Bedürfnis nach Aufarbeitung ebenso vorhanden ist wie Verdrängung im Interesse nationaler Nostalgie. In Russland sind kaum Täter oder Mittäter jemals für ihre Verbrechen unter Stalin zur Verantwortung gezogen worden, was die Gesellschaft bis heute spaltet. Auf die heutige Generation bezogen verurteilt auch der Film niemanden für seine oder ihre Verdrängungshaltung, sieht darin eine problematische, aber im gewissen Sinne auch lebensnotwendige Praktik der Selbsterhaltung, die in der einen oder anderen Form fast immer angewendet wird, wenn Bewältigung und die ihr eigenen Arten von Buße nicht verordnet werden.
Trotz ihrer leisen Töne und ihrer Nüchternheit verfügt die Dokumentation über eine intensive atmosphärische Dramaturgie. Musik spielt in dem Konzept eine zentrale Rolle, gleichwohl man sich um eine passagenweise fast unterschwellig wirkende Tonspur bemüht hat. Zur Umsetzung wählte Gorter den Komponisten Rutger Zuydervelt, der für den einen halbstündigen Track, der den Film untermalen sollte, noch den Saxophonisten Ilia Belorukov und den Drummer René Aquarius ins Studio holte. Leise und bedächtig, wie ein dezentes Hörspiel fernab epochaler Sujets beginnt der Score mit heimelig knisterndem Feuer, erst nach einer Weile ertönt aus der kühlen, winterlichen Ferne ein verwehter Chorgesang, dringt zusammen mit heulenden Bläserparts wie im Zoom näher ans Ohr: sowjetische Folksongs, Lieder vermutlich mit Agitprop-Texten, die schon wegen der Sprache das romantische Klischee der russischen Seele heraufbeschwört hätten, wären sie nicht so schnell wieder verschluckt worden – vom jetzt lauten Prasseln der Flammen, von Radiowellen, Motoren und pochender Perkussion, von unterkühlten Ansprachen des stählernen Despoten, die sich so sehr von den wutschnaubenden Brandreden rechter Diktatoren unterschieden, von rauen Stimmen, die sich zu monströsem Fauchen steigern. Doch die dramatischen Momente sind gut dosiert und enthalten kein Geschrei, keine Märsche, keinen Gewehr- und Kanonendonner und auch keine marschierenden Stiefel, die orchestralen Parts, die mit Drums und dem Blasinstrument auch in zerfetzte Rock-Improvisationen kippen könnten, halten sich merklich zurück.
Die Gesänge jedoch, fragile Spuren des Menschlichen in all seiner schönen und hässlichen Gestalt, lassen sich nicht verdrängen, auch der Eindruck von Trauer nicht, der in der kurz herbeigewehten Passage eines russischen Frauenchores anklingt. Zuydervelt ist als Soundkünstler, oft unter seinem Pseudonym Machinefabriek, einer der renommiertesten seines Fachs, und in den vergilbten, kurz vorm Vergehen seiner Bestandteile noch zusammenmontierten Klangkollagen zeigt er sich des Stoffs würdig, den er – jeder bombastische Tusch am Ende wäre da auch unverzeihlich – ganz leise ausklingen lässt. (U.S.)
Label: SOFA