LUCRECIA DALT: Anticlines

Hätte die kolumbianische Musikerin Lucrecia Dalt, die von Haus aus Geoingenieurin ist und einige Jahre in dem Metier arbeitete, bereits eine jahrzehntelange Karriere hinter sich, würde man sich nicht genieren, “Anticlines” als Testament oder Vermächtnis zu bezeichnen – wie es immer wieder geschieht, wenn jemand in späten Jahren ein opulentes Werk herausbringt, dass einen großen Erfahrungsschatz verarbeitet und aufgrund seiner thematischen Weite den Eindruck erweckt, dass nun nichts derartiges mehr nachkommen kann.

Lucrecia Dalts Laufbahn als Vokalistin und Producerin ist noch keine zehn Jahre alt und allem Anschein nach im Aufwind, und dennoch wirkt “Anticlines” wie eine großangelegte Rückschau, ein erstes Resümee über den bislang angesammelten Schatz an Erfahrungen.

Dabei sind die Stilmittel auf den ersten Blick recht minimal gehalten: Sich immer wiederholende kleine Synthiebrocken, rau stellenweise, blubbernd und quietschend, kratzige Drones, die von verschiedenen Seiten des Raumes aus ihre Kreise ziehen, Leerstellen lassend bis zur Fragmentierung, an einen Soundcheck, aber auch an das Covermotiv erinnernd – Derartiges zieht sich durch alle der zwölf recht kurzen Tracks. Melodische Synthietupfer weichen die eher spröde Gestalt des Soundmaterials an ausgesuchten Stellen auf, und immer wieder erinnert das Setting an eine nostalgische Sci Fi-Welt.

Auch Dalts poetischer Stimmvortrag, meist im Rahmen melodiefreier Spoken Words, wirkt auf den ersten Eindruck trocken bis nonchalant, doch kann man das für etwas anderes als ein Stilmittel halten, wenn sie dabei über die Liebe, über das Einatmen von Teer oder über ein Monster names El Boraro sinniert, das seine Opfer aussaugt und ihre Körper zu Ballons aufbläßt? An manchen Stellen, oft gerade dann, wenn auch die Musik etwas in Schwung kommt und lateinamerikanische Rhythmen anklingen lässt, lockert sich der kühle Sprechgesang auf, wird zu Rap oder verwandelt sich in zaghaften Gesang.

Die “enzyklopädische” Seite von “Anticlines” versteckt sich im Inhalt der Poesie, die ein existenzielles Panorama entwirft, das von außerirdischen Gesteinsformationen in der Antarktis über die conditio humana bis in die Welt der Ideen reicht – ein Panorama, dass all diese Gegenstände an dramatischen Wendepunkten zeigt und nicht selten mit der Frage nach ihrer Transformation konfrontiert. Damit schlägt sie auch die Brücke zu ihrem angestammten Metier, denn die titelgebende Antikline oder Antiklinale bezeichnet in der Geologie eine Gesteinsaufwölbung, bei der Gebirge entstehen und ihre Form verändern können. (A.Kaudaht)

Label: RVNG Intl.