V.A.: Anthology of Electroacoustic Lebanese Music

Im Zentrum von Beirut, nicht weit von der Downtown und dem chicen Place de l’Etoile und in direkter Nachbarschaft der größten Moschee und der größten maronitischen Kathedrale der Stadt, zieht ein fast ovaler grauer Betonbrocken die Aufmerksamkeit eines jeden Neuankömmlings auf sich. Es handelt sich um das 1965 für tausend Besucher gebaute Kino Dome, das heute von den Einheimischen nur “das Ei” genannt wird. Flaniert man seitwärts die Bechara El Khoury-Straße entlang, sieht man schnell, dass die komplette Südseite fehlt – das Gebäude ist seit den schweren Gefechten des libanesischen Bürgerkrieges in den 70er und 80er Jahren eine Ruine und auch deshalb eines der Wahrzeichen Beiruts. Als ein solches eignet sich das Gebäude aber auch, weil es nie nur als Mahnmahl fungierte, sondern in regelmäßigen Abständen als Veranstaltungsort für Konzerte, Performances, Raves und anderes genutzt wird.

Das unmittelbare Aufeinandertreffen von Glanz und Ruin, von Kriegstraumata und einer beeindruckenden DIY- und Stehaufmentalität korrespondiert derart gut mit der experimentellen Musikszene des Landes, dass sich das Ei wie nur wenige andere Landmarken als Covermotiv für diese Sammlung elektroakustischer libanesischer Musik eignet, und es könnte dem Realitätssinn der Macher geschuldet sein, dass sie das Bauwerk nicht von der postkartentauglichen Nordseite, sondern von der Seite zeigen, wo ein schroffer Bretterzaun die Sicht versperrt. Trennungen spielten in der Geschichte des Landes immer wieder eine Rolle, auch wenn sich die meisten Avantgardemusiker des Landes, die aus christlichen, muslimischen, drusischen und atheistischen Bevölkerungsteilen gleichermaßen stammen, wohl wenig darum scheren.

Einige der vertretenen Künstler werden unseren Lesern zumindest vom Namen her bekannt vorkommen, und u.a. ist dies den Franzosen von Oiseaux-Tempete geschuldet, denn diese verbrachten einige Zeit im Libanon und haben dort mit zahlreichen Musikern gearbeitet wie z.B. dem Duo Two or The Dragon. Die beiden steuern mit “Prelude for the Triumphant Man” ein perkussives Munumentalstück mit spannungsgeladenen Trommelwirbeln und proklamierenden Shouts bei, das – falls der Vergleich bei einem auf verzerrte Noiseelemente weitgehend verzichtenden Stück legitim ist – gängige Standards im Martial Industrial alt aussehen lässt. Ebenfalls für lärmige Entgrenzung sorgt Tony Elehs “It’s good to die every now and then” mit kratzigen Noiseloops und tremolierenden Hochfrequenztönen, die einem im Laufe der neun Minuten die Trommelfelle wundscheuern. Die mir vorher unbekannten Stress Distress verknüpfen hallastigen Großraumnoise mit ambienten Sounds und allerlei Samples, dass man glatt meinen könnte, die MS Salt Marie Celeste würde ein weiteres mal versinken.

Neben solchen Krachern finden sich Beiträge besinnlicher Art, in deren Wohlklang man bei wiederholtem Hören immer wieder neue Facetten entdeckt. Charbel Haber präsentiert das Orgelstück “We Dream In The Sun We Tan When We Can” mit wellenförmigen Drones und einer unglaublich berührenden Melodie. Fadi Tabbal und Marc Codsi gehen in eine ähnliche Richtung, während das Drone des ersteren tiefe Melancholie versprüht, wissen die orchestralen Halllandschaften des letzteren beinahe ozeanische Gefühle zu wecken. Die Sängerin und Oudspielerin Youmna Saba liefert den songorientiertesten Beitrag ab. Ihr “Nafas” verbindet schabende, klappernde Sounds mit Oudspiel und dreampopartigem Gesang und ist so eine interessante Dekonstruktion akustischer Songwritermusik. Ebenfalls wohlklingend Jad Atoui, dessen elektronische Avantgardemusik mit den z.T. monumentalen Rundungen heraussticht. Noch verspielter Ziad Moukarzel, dessen modulare Patterns nie ganz berechnebar sind und nicht mit schrillen Soundeffekten geizen.

Freunde der Musique Concrète kommen bei Joseph Doumets Rumpelkollage auf ihre Kosten und dürfen sich an Straßenszenen, Motoren und Grölllawinen erfreuen. Der Schlusstrack könnte nicht besser dahinter passen, denn in dem leicht retrofuturistisch angehauchten “Cut 1″ präsentieren Irtijal-Kurator und Multiinstrumentalist Sharif Sehnaoui und der im letzten Jahr verstorbene Amerikaner Charles Cohen eine wahre Orgie an Schaben, Rumpeln, Saitenrasseln, gezückten Klingen und knarrenden Türen. So viel zur CD, auf dem beiliegenden Download sind neun weitere Tracks im ähnlichen Line-up vertreten, neu sind Tres Milliones Dolares mit solidem clubtauglichen Rhythm Noise, bei Fadi Tabbal gebe ich dem zweiten Drone den Vorzug, und Sehnaoui zaubert, diesmal in Kollaboration mit Raed Yassin und Gert-Jan Prins ein wechselhaftes, über weite Strecken atonales Musique concrete / Noise-Stück aus dem Hut.

Die CD gibt einen repräsentativen Einblick in eine sehr lebendige lokale Musikszene, wobei hier keineswegs Vollständigkeit angestrebt wurde – einige weitere Musiker Libanons wie Litter, Munma, Tasjil Moujaheed oder Rabih Beaini waren schon Thema auf diesen Seiten. Samplern wie diesen kommt der Verdienst zu, diese Musiker auch überregional noch bekannter zu machen, wobei man immer auch riskiert, dass manche sie zu sehr auf ihre Region reduzieren und als Exoten alterisieren. Ein nächster Schritt wäre, dass einige der Künstler in der Zukunft, je nach musikalischer Ausrichtung, ganz selbstverständlich auf internationalen Veranstaltungen von CTM bis Unsound, von Berlin Atonal bis Maschinenfest zu sehen wären. (U.S.)

Label: Unexplained Sounds Group