Nach ihrem 2015 erschienenen Album “Asperities” hat Cellistin Julia Kent mehr als zuvor Musik zu verschiedenen Theater- und Tanzprojekten komponiert und im Livekontext aufgeführt – eine Erfahrung, die sie mehr als alles andere mit der Zerbrechlichkeit physischer Existenz konfrontiert hat. Im Unterschied zu ihr selbst als Musikerin, die immer wieder mit Cello und technischem Equipment eine überpersönliche Einheit bildet, sind Schauspieler und v.a. Tänzer ganz auf den eigenen Körper als Instrument zurückgeworfen, nichts steht zwischen diesem Körper und den Gesetzen der Schwerkraft und der Zeit. Zwangsläufig mussten diese Eindrücke auch ihren Weg in die Tonspuren finden, die sie in der Zeit für verschiedene Performances herausgearbeitet hat, und so bilden sie einen wenn auch nur vage benennbaren roten Faden durch die sieben Stücke, die zu dem Album “Temporal” zusammengewachsen sind.
Der erste Track “Last Hour Story” geht ohne Umschweife ins Zentrum des Geschehens, stimmungsvolles Pizzicato öffnet die Tür für schnell ziehende Saiten, und schon ist man mitten in einem atmosphärischen, zwölfminütigen Track, in dem immer weitere Melodieschichten hinzukommen – Handlungsstränge, die Teil einer sich stets verändernden, nie festgeschriebenen Geschichte sind. Dramatisch-dunkle Striche beinahe wie Riffs, wehmütig in die Höhe ragende Melodiebögen, leise Passagen, in die akzentuierende Zupfer immer neue Wendepunkte einleiten, ein schwerer, erdender Schluss: In all dem erkennt man Julia Kent, die hier aber weit organischer als beim letzten Longplayer arbeitet, und – vielleich auch wegen der geringeren oder zumindest subtileren Nachbearbeitung – viel unmittelbarer auf die Emotionen abzielt, die bis zum tiefen, schlummernden Ausklang von “Crepusculo” in den unterschiedlichsten Facetten zum Ausdruck kommen.
Veränderlichkeit von einer unvorhersehbaren Art ist ein Merkmal, das sich in allen Stücken mehr oder weniger stark findet, und somit auch immer wieder die Brücke zum Titel schlägt, denn die unterschiedliche Zeiterfahrung durch nie gleichbleibendes Tempo, durch Wiederholungen und Brüche, sind allerorts spürbar. Unter den ziehenden Flächen, die im schon als Single erhältlichen “Imbalance” von leichten Takten durchzogen sind, ist eine versteckte Unruhe auszumachen, die nicht nur von den an Schere und Papier erinnerden Sounds herrührt – ein Eindruck, der sich bald bestätigt, denn irgendwann spitzt sich eine nervöse Hektik zu, die nur durch etwas, das ebenso eine Explosion wie eine Implosion sein könnte, ihrem rauschenden Ende zugeführt wird. Auch im Widerstreit zwischen den begehrlichen Pizzicatos und den traumhaften Klaviertupfern im fast poppigen “Floating City” und der lieblichen Melodik von “Through the Window” ist diese Unsicherheit zu spüren, ganz zu schweigen vom eher soundscapigen “Conditional Futures”, dem unstetigsten Track des ganzen Albums, bei dem das wabernde Cello in stets anderer Klangfärbung nach und nach den ganzen Raum ausfüllt, immer wieder aufgemischt von leisem Bimmeln und weiteren Spannungsmomenten.
Der ganze Kontext der Entstehung der Musik ist nicht nur stimmungsmäßig präsent, sondern von der Musikerin auch subtil in die Stücke eingewebt in Form von bis auf wenige Stellen fast zur Unkenntlichkeit verfremdeten Samples von Performances, meist von den Stimmen der Schauspieler, die den Stücken ein weiteres menschliches Element beigeben. Stimmen werden zu Textur, und ein weiteresmal verschwimmen die Grenzen zwischen den klanglichen Elementen. (U.S.)
Label: The Leaf
Julia Kent – Imbalance (Official Video) from THESIS on Vimeo.