DALRYMPLE: Make Believe

Die im Englischen nicht selten substantivisch gebrauchte Wendung „Make Believe“ bezeichnet eine Täuschung oder Gaukelei, die Erzeugung einer Illusion, eines falschen Scheins. Dabei wird sie keineswegs nur negativ verwendet, was verständlich ist, denn in Vielem ist der schöne Schein weitaus reizvoller als die schnöde Wirklichkeit, die nach Oscar Wilde ohnehin nur ein epigonaler Abklatsch der Kunst ist. Gebrauche deine Fantasie, und es entsteht Realität, wird mancher Magus wohl – sicher in pathetischeren Worten – betonen.

Der in Kalifornien lebende Musiker mit dem skurrilen Namen Dalrymple, früher auch bekannt als Dalrymple MacAlpin ist ein Gaukler von großem suggestivem Talent, seine Songs evozieren weiträumige, bewegte Welten. Gleich zu Beginn seiner Debüt-LP (die erste unter seinem eigenen Namen ohne seine frühere Band Lasher Keen) führt er seine Hörer zu einer besonderen Tür: „Give me your hand and take this key / Here is a door which you have never seen“ heißt es dort.

In der Musik lassen sich weiträumige Welten kaum durch eindimensionale Stile heraufbeschwören, und dementsprechend rangiert „Make Believe“ zwischen einer Vielzahl an Eckpunkten: Kammermusikalischer, mal minimaler, mal in üppige Mittelalter-Instrumentierung gekleideter Folk, den man, falls nötig, auch mit Präfixen wie Psych, Weird oder – angesichts einiger inhaltlicher Motive – Apocalyptic versehen könnte. Klassische Vokalparts zwischen berührenden Arien und kraftvollem, mehrstimmigem Chorgesang. Kämpferischen, manchmal geradezu monumentalen Progressive Rock-Stücken – und all das in kaum repetitiver Vielfalt und Opulenz und immer an eine Ästhetik angelehnt, die unweigerlich an die 70er erinnert, an den Folkrock von Steeleye Span und an den Sound von Gruppen wie Goblin, Third Ear Band oder Jethro Tull.

Es ist schwer, einzelne Abschnitte des wie eine Einheit funktionierenden Albums hervorzuheben, dennoch wage ich eine Songauswahl: „In My Youth“, ein leichtfüßiges Artpopstück mit stimmungsvollem Piano, angeregtem Hafenspiel und der androgynen Stimme des Protagonisten. „Six Conjuring Candles“, bei der Dawn MacCarthy von den Faun Fables mit in die Luft gestreckten Armen zum Kampf ruft, unterstützt von Marschtrommel und Fanfaren. Das zauberhaft schlüpfrige „Green Man“, das wie aus einem allseits bekannten englischen Kultfilm gefallen scheint. Der betörende Eskapismus mit Spieluhr und Walzertakt in „Fall to Sleep“. „The Blessing of Pan“, bei dem ein Kinderchor dem Gott in Walpurgisnachtstimmung mit “Hoof beat, hoof beat”-Rufen zum Tanz auffordern. Die schöne William Butler Yeats-Vertonung „The Stolen Child“. Das teilweise auf Versen von Roald Dahl basierende Doppelstück „The Trickster Ferryman & Morning of the Magicians“, das mit seinen knapp zwanzig Minuten fast ein Minialbum abgäbe und eines der schönsten Saiten- und Flötenduette der Musikgeschichte bereithält. Schließlich – und damit wären dann ohnehin die meisten Tracks erwähnt – der elf Minuten lange Bombast von „GogMagog“, bei dem man sich von einer ganzen Armee an Endzeit-Riesen überrant fühlt, während über einem die Holzbläser quaken. Euphonie und Kakophonie, Besinnung und Aufruhr, Heimeliges und Exotik, Traum und Alptraum sind auf „Make Believe“ tatsächlich oft nur ein paar Takte voneinander entfernt und wirken wie ungleiche, in leidenschaftlicher Hassliebe verbundene Zwillinge.

All dies wird von einer großen Zahl meist traditioneller und weniger elektronischer Instrumente (z.B. ein Moog, den man unter bestimmten Gesichtspunkten natürlich auch traditionell nennen kann) zustande gebracht, und mit zur magischen Atmosphäre trägt auch das Artwork von Benjamin A. Vierling bei, der bereits Alben von so unterschiedlichen Musikern wie Joanna Newsom und Profanatica bebildert hat.

Um dem ganzen Namedropping noch eins drauf zu setzen, sei das Album v.a. denen empfohlen, die den märchenhaften Welten In Gowan Rings, der verspielten Theatralik der Faun Fables, den stilistisch uneindeutigen Current 93 der Nullerjahre und der folkigen Psychedelik von Gruppen wie Constantine und Trappist Afterland restlos verfallen sind. (U.S.)

Vertrieb: Dalrymple