V.A.: Seitō: In the Beginning, Woman Was the Sun

Seitō, das übersetzt Blaustrumpf oder blauer Strumpf bedeutet, war eine literarische Zeitschrift, die von 1911 bis zu ihrem Verbot 1916 in Tokyo herausgegeben wurde und sich zum Ziel setzte, der japanischen Frau eine Stimme zu geben bzw. diese aus ihrer aufgezwungenen Marginalität zu befreien. Wie der Titel der Publikation schon nahelegt, war der Ansatz stark von der europäischen Frauenbewegung inspiriert, doch wenn die als leitende Herausgeberin fungierende Feministin Hiratsuka Raichō in einem zentralen Text auf den Shinto-Schöpfungsmythos verwies und schrieb “When Japan was born, woman was the sun, the true human being”, knüpfte sie auch an eigene Traditionen an und implizierte, dass die Frau in der japanischen Kultur nicht von Beginn an eine marginale Stellung innehatte. Die Ungleichbehandlung galt so als Verfallserscheinung.

Auch wenn man sich mit experimenteller japanischer Musik befasst, unter der das fettestgedruckte Schlagwort sicher nach wie vor Noise ist, könnte man den Eindruck bekommen, dass es sich dabei weitgehend um Männerdomänen handelt – eine Klischeevorstellung letztlich, denn sobald man sich unter der üblichen medialen Wahrnehmungsgrenze umschaut, wird man auch in den abseitigeren Klangkünsten einige interessante Musikerinnen finden. Vermutlich war es auch diese Unterrepräsentiertheit, die die Kuratoren der vorliegenden Compilation dazu bewegte, einen Querschnitt interessanter japanischer Experimentalmusikerinnen zu präsentieren. Titel und Untertitel erinnern an den vor hundert Jahren stattgefundenen Diskurs, und auch die Musik reicht auf Referenzebene bis in diese Zeit zurück.

Noise in brachialer Form, wie man ihn hierzulande gerne mit Japan assoziiert, findet sich kaum in der kleinen Anthologie, vielleicht um den Fokus mehr auf subtile Herangehensweisen zu legen. Als Stilmittel innerhalb einzelner Stücke spielt Lärm aber eine nicht zu unterschätzende Rolle. Vielschichtiges Rauschen und Prasseln sowie hohe Sinustöne überdecken irgendwann den an einen Countertenor erinnernden Gesang Fuji Yukis, und auch wenn sich die verschiedenen Soundschichten immer neu verschieben, stellt sich irgendwann eine monumentale Wirkung ein. Auch bei Kiki Hitomi droht der schleppende Takt und der unheimliche, an ein zombifiziertes Weihnachtslied erinnernde Gesang unter einer Schuttlawine begraben zu werden. Eher verspielt wirken dagegen die Radiosamples und Effekte der in Düsseldorf lebenden Miki Yui.

Einige Beiträge beinhalten Referenzen auf ältere Musik klassischer oder populärer Art, was selbst durchaus Tradition hat, wenn man bedenkt, dass Künstler wie die Group Ongaku schon in den 60ern im Zeichen des Fluxus traditionell japanische Klänge mit Geräuschen des Alltags kombinierten. Mikado Kiko etwa samplet eine Aufnahme des bekannten Songs „Fukagawa Bushi“ aus den 20ern, bei der die Sängerin und Geisha Fumikichi Fujimoto (1897-1976) in anrührender Art und mit Saitenspiel begleitet eine Kriegsgeschichte in einen Song packt. Exotik, die man in die alte Aufnahme projizieren könnte, wird in Mikado Kikos Palimpsest jedoch nicht durch lärmende Verfremdung, sondern durch groovige Dubstep-Rhythmen durchbrochen. Kakushin Nishihara kontrastiert monotones Saitengeschmetter mit drängenden Vocals und einem Fundament aus rauem Noiserock, wohingegen Kuunaki – ein Trio, zu dem die Noise-Musikerin Yuko Araki zählt – mit Rasseln, Pauken und einem kraftvoll-melodischen Gesangspart zum Kampf trommeln. Martialisch geht es auch in Keiko Higuchis Version des traditionellen Songs „Okesa Bushi“ zu, dass übersetzt „Nähende Kriegerinnen“ heißt. Schleppende Klavierakkorde und eindringlicher Gesang steigern sich zu einem furiosen Crescendo, dass all die Kämpfe, von denen diese Musik kündet, noch einmal Revue passieren lässt.

Thematisch knüpft der Sampler ganz gut an die Anthologie „Art of the Muses“ (Syrphe Records 2012) an, die z.T. ähnlich geartete Musikerinnen aus ganz Ostasien vorstellte. Mehr noch im Fokus auf die Geschichte weiblicher Kreativität eines bestimmten Landes liegt die Besonderheit von „Seitō“ aber in der forschen, kämpferischen Ausrichtung der ansonsten recht unterschiedlichen Musik, die dann auch ganz gut zu dem passt, was man sich hierzulande unter einem Blaustrumpf vorstellt. Der einzige Wermutstropfen ist die Kürze der Veröffentlichung, denn zu dem Thema hätte sich bestimmt noch mehr finden lassen. (U.S.)

Label: Akuphone