SEA URCHIN: Tahtib

Musik, bei der Sprache im Sinne rezitierter Texte eine wichtige Rolle spielen und bei der die restlichen Soundkomponenten nicht bloß eine unscheinbare Kulisse sein sollen, läuft oft Gefahr, in einem wirren Brei zu enden, denn – ganz ähnlich einem alten Wasserhahn, bei dem es nur noch die Wahl zwischen eiskalt und brennendheiß gibt – verschluckt die Musik den Text schnell, sobald man dieser einen etwas markanteren Eigencharakter geben will.

Die Lösung dieses Dilemmas liegt oft in der Kunst, der Stimmarbeit auch jenseits von Melodien paraverbale Effekte und ein vorzeigbares Pensum an Dramatik abzugewinnen. Sea Urchin, das Poetry- und Elektronik-Duo mit Wurzeln und Ankern in Ägypten, Italien, Österreich, Belgien und Deutschland schafft dies auch dann, wenn man als Hörer weder im Arabischen noch im Italienischen firm ist. Das könnte u.a. am für westliche Ohren eigenwilligen Klang des Arabischen liegen, mehr noch vielleicht an der leicht rauen und zugleich etwas gehauchten Stimme, die Leila Hassan oft in einer verqueren Mischung aus Pathos und Beiläufigkeit einsetzt.

Ihr jüngstes Album “Tahtib” ist nach einer Kampfsportart mit Stöcken benannt, die an Escrima erinnert, ihre Wurzeln aber in der Region um Alexandria hat. Im Auftakt, der einen mit nostalgischen Synthies einlullt, wirkt das Album aber zunächst eher relaxt als martialisch. Allerdings nur kurz: peitschende Polyrhythmen, die dem Anschein nach einen ganzen Sack voll nordafrikanischer Traditionen im Gepäck haben, rütteln die Klangfläche wach, und wenn Hassans Stimme eine abgeklärte Ruhe zurückbringt, kommt alles ins surreale Schleudern, das ohnehin eine Königsdisziplin von Producer Francesco Cavaliere ist. Es ist v.a. der Widerstreit, ohne den es kein Fortschreiten gibt, der sich hier offenbart und in dem gleitenden Interludium weiterlebt, unter dessen Oberfläche die Alarmsignale kreischen.

“Tahtib” ist insgesamt von einer eher luftig gehaltenen, in Ansätzen retrofuturistisch eingefärbten Klanggestalt und dockt an bizarre Dub-Strukturen ebenso an wie an Spannungsmomente alter Gialloscores, hier und da gönnt man sich kleine Ausflüge in die Kunst des Lärmens. Zwischen den manchmal kecken Brüchen gibt es aber immer mal Passagen, die vom Label als mythische Post Exotik bezeichnet werden: Koliritreiche Elektrifizierungen tanzbarer und zugleich rituell anmutender Perkussion, die nach Handdrums und Rasseln klingen und im Zusammenspiel mit Hassans beschwörend-repetitiver Vokalintonation in jedem Fall ein interessantes Hörspiel oder den berühmten inneren Film entstehen lassen.

Letztere sind oft Teil der Performances des nach der Seegurke benannten Duos, das auch auf Platte eine Empfehlung wert ist. (U.S.)

Label: Bokeh Versions