SIEBEN: 2020 Vision

Matt Howden hat mit seinem Projekt Sieben etwas gemacht, worin ihm wenige gefolgt sind – zumindest ist mir niemand bekannt, der die in der “Neuen” oder experimentellen Musik gängige Bearbeitung von Violinparts mit Loopeffekten derart konsequent in den Bereich des Songwritings überführt hätte. Schon aus diesem Grund, mehr noch allerdings aufgrund der signifikanten Handschrift seiner Musik, wäre diese auch dann noch originell, wenn er dem schöngeistigen und immer leicht melancholisch eingefärbten “Folkpop” treu geblieben wäre, der Alben wie “Star Wood Brick Firmament” oder “Each Divine Spark” eine so große Beliebtheit beschert hat. Doch Howdens Pläne gehen seit einigen Jahren in eine andere Richtung, und so wendete sich seine Musik unter Beibehaltung wesentliche Techniken spätestens seit “The Old Magic” vom Pop zum Rock, zugleich nahm die nie wirklich marginale politische Seite Siebens einen größeren Raum ein, wurde deutlicher, punkiger, aggresiver.

Man kann sagen, dass “2020 Vision” so gesehen an das vor rund zwei Jahren erschienene “Crumbs” anknüpft, einem furiosen Rundumschlag gegen den damals aktuellen Stand der Dinge im UK. Doch ebenso wie die Zeit im Vereinigten Königreich auch seitdem nicht stehen geblieben ist, hat sich Sieben ein weiteres Mal gehäutet und wartet mit einigen Überraschungen auf. Eine ist Kev, seine neue fünfsaitige Kevlar-Violine, die hier den Status eines vollwertigen Bandmitgliedes erhält und als solches auch mit Ansagen nicht geschont wird: “We’re all Fucked, Kev” lautet der kompromisslose Titel des ebenso kompromisslosen Openers, und zu punkigem Uptempo, rockigen Soli, schwülheißem Summen und alarmierenden Sirenenklängen erörtern Matt und Kev die Übel der Zeit und Howden bekommt – nicht persönlich, aber als Angehöriger der Spezies Mensch – einen veritablen Abgesang zu hören. “Aufgeschmissen seid ihr, nicht ich”, scheint Kevs Devise zu sein und das Ende des Anthropozän und den Untergang der Menschheit scheint ihn nicht sonderlich zu kümmern – nicht weil er nicht weiß, dass er dem Menschen seine Existenz verdankt und ihn braucht, um gespielt zu werden, sondern weil es ihm an Sehnsucht und Begehren, am Wunsch zu bestehen fehlt. Künstliche Intelligenz will nichts.

Dieses Batteling und all die Hintergedanken zum Album müssen sich irgendwann im letzten Jahr abgespielt haben, lange vor Corona und den immer deutlicher zutage tretenden Folgen unseres Wirtschaftens, die das mettigelförmige Virus erkennen lässt, und auch in dieser Hinsicht erweist sich der apokalyptische Grundtenor des Albums und der Texte über soziale und ökologische Verwerfungen als visionär. Wie es sich für kraftvollen Rock mit endzeitlicher Message geziemt, ist die Stimmung dekadent: Mit groovigem Hämmern auf den Saiten und dem geloopten Stimmengewirr ist das immer dichter werdende “Enzosonbenzos” ein stetig aufgepumpter Ballon, aus dem die Luft am Ende entweicht wie die Farbe aus einem allzu strahlenden Bild. In “Reckoning Beckoning” takten geschlagene und gestrichene Rhythmen gegeneinander an und demonstrieren erneut, dass Rock oder Postpunk mit Geige nicht auf Levellers oder New Model Army, deren Konzerte Howden bereits eröffnet hat, hinauslaufen muss, denn hier übernimmt das Gerät ein ganzes Rock-Instrumentarium. Entpannte Grooves im Downtempo (“Death Tape Updated For 2020″), klassischer Rock mit weiblichen Gastvocals (“Vision”), treibende Ohrwurmstücke (“Come And Ride in The Cult Of Light”) und dystopische Kracher (“The Darkness You have Drawn”) reichen sich die Klinke in die Hand, in elektronischer ausgerichteten Tracks wie “You, My Cult Of Blight” erkennt man die Handschrift des ebenfalls beteiligten Maciek Frett (Job Karma), und zwischen ekstatischen Beats und röhrenden Riffs klingt hin und wieder sogar eine vertraute Folknuance an, so in “Berylsinperil”, in dem die Violine mal ganz klassische Ornamente webt.

“Times like this probably need an album with some positivity. Wish I’d known that before writing this one”, klagt Howden im Pressetext, aber ich denke, dass ihm hier die perfekte Gradwanderung gelungen ist, denn Endzeitstimmung funktionierte seit jeher am besten “with a grain of salt”, und wer derzeit ein Bedürfnis nach Eskapismus hat, ist bei Apocalypse Culture dieser Art ohnehin an der falschen Adresse. (U.S.)

Label: Redroom