JOHN POUBELLE: Pléistocène Supérieur

Wer im experimentellen Musikbereich regelmäßig bahnbrechende Innovationen erwartet, hat wahrscheinlich die letzten zehn oder mehr Jahre verschlafen und sollte sich auf ein paar enttäuschende Erfahrungen einstellen, denn dröhnende und lärmende Klangkkunst bieten heute meist soliden Standard, bei dem man wie bei jeder guten Folklore in etwa weiß, was einen erwartet. Wenn einem das genügt und sich trotz alledem noch keine Abstumpfungserscheinungen breit gemacht haben, dann kann man sich umso mehr über die wenigen herausragenden Überraschungen freuen.

Zu diesen Ausnahmeerscheinungen zählt erneut ein Tape aus dem Hause Commando Vanessa, das diesmal von einer in Paris lebenden Römerin namens John Poubelle (eigentlich Louise Burgers) stammt, die bislang in Gruppen wie Il Gran Diavolo oder Cellule de Crise aktiv war. Was Poubelle selbst als “fragilen, unterirdischen Punk” beschreibt, entpuppt sich auf ihrem Tape-Debüt als reizvolle Mixtur aus sakral anmutenden Gesängen, zitternden Sound- und Lärmwellen und dem einen oder anderen Totentanztakt, geschlagen mit seltsam launigen Gummiknüppeln. Vielleicht weckt das Vorstellungen von etwas Krudem, weil es genau so krude vermutlich bei den meisten anderen auch klingen würde.

Was auf dem komplett solo und im vermutlich nicht allzu üppig ausgestatteten Heimstudio entstandenen “Pléistocène Supérieur” ziemlich schnell aufällt, ist Poubelles Fähigkeit, akustische Räume zu erschaffen. Elektrifizierte, kupferne Wellen schlagen in regelmäßigen Intervallen gegen imaginäre Blechtafeln, dunkles Dröhnen lässt eine hallende Unterwelt erbeben, und irgendwann flattert ein geisterhafter Sopran durch diesen Hades, wird von Raum absorbiert und hallt als Choral wider. Stets wirkt die klangliche Materie wie in Bewegung, kreisende, eiernde, brodelnde Details überlagern sich, verschwimmen miteinander, und wenn irgendwann so Prosaisches wie Breakbeats und Flummitakte auf den Plan treten, ist auch dies ganz in die geheimnisvolle Aura des Schauplatzes getaucht.

Letztere geben den Rhythmus vor für den Track “À ces jours”, dessen hypnotischer Gesang an eine Volksweise erinnert und zusammen mit den wabernden Loops einen perfekten Underground-Hit abgibt. Summende Motoren und apokalyptische Stürme durchtosen die nächsten Minuten, dann wird es in “Coquelicot” trotz des wie durch eine Filzdecke gesungenen Gesangs fast klavierballadesk. In “Poison” krepieren Wahnsinnschreie, die in den noisigen Shouts von “Le sort réservé” ihre Wiedergänger finden, und im retrofuturistischen Synthieklingeln von “Soldo degli angeli” offenbart sich ein weiterer, diesmal italienischer Gassenhauer.

Vom Label heißt es, die Kunstfigur John Poubelle sei zur Nichtexistenz geschaffen, wofür ich gutes Gelingen wünsche, vorausgesetzt, man versteht darunter das Charisma einer gewissen Unwirklichkeit, die dieser Musik anhaftet, und von der ich hoffe, dass sie gleichsam noch lange Wirklichkeit bleibt. (U.S.)

Label: Commando Vanessa