CHRISTOPHER CHAPLIN: M

Mit “M” schließt der in London lebende Komponist Christopher James Chaplin seine Trilogie ab, die vor vier Jahren mit “Je Suis Le Ténébreux” ihren Anfang nahm und vor zwei Jahren mit “Paradise Lost” fortgesetzt wurde. Auch dieses mal interpretiert Chaplin ältere Texte in den Medien Musik, Rezitation und Gesang und eröffnet dabei einen Interpretationsrahmen, der den Gehalt dieser literarischen Stimmen auch auf heutige Fragen bezieht.

Der Titel “M” bezieht sich Chaplin zufolge auf den hebräischen Buchstaben Mem, der im kabbalistischen Gebrauch mit zwei Dingen in Verbindung steht, die vielleicht erst auf den zweiten Blick miteinander zu tun haben: mit der schöpferischen Transformation des Selbst (und der persönlichen Umwelt) und mit dem Rückzug, der Quarantäne, die oftmals den Wunsch und die Notwendigkeit tiefgreifender Veränderungen erst bewusst und ihre Verwirklichung zeitökonomisch möglich macht. Chaplin vertont allerdings keine Texte der Kabbala, sondern setzt durch die Voraussetzung des aktiv sinnstiftenden Rezipierens seiner Arbeit einmal mehr auf Kreativität. Die Reise beginnt bei dem römischen Dichter Ovid, dessen Metamorphosen zu den klassischen Werken zum Thema der Transformation zählen.

Feierliche Bläser bilden den Auftakt, deuten Großes an, das sich noch nicht ganz in dem hypnotisch summenden Klangteppich offenbart, der sich kurz darauf gemächlich im Raum ausbreitet, spätestens aber im Vortrag des Vokalisten Finley Quaye aus der englischen Textfassung, dessen gewollte Schnodderigkeit die Poesie der Geschichten über verwandelte Seeungeheuer noch unterstreicht. Der leicht aggressive Ton akzentuiert Unerhörtes, Nichtalltägliches, und auch in die Musik kommt nach einigen Minuten immer mehr Bewegung und Fülle.

Ein leicht metallener, technoider Takt verbindet “Metamorphose” mit “A Sea Change”, wo er als hauchdünner, trippelnder Beat feine Streicherpassagen vorantreibt. Über einem Fundament aus Samples von Karl Michael von Hauswolff spricht und singt Mira Lu Kovacs eine Passage aus Shakespeares The Tempest, wo der Geist Ariel prophetisch einen Paradigmenwechel für die Welt besingt. Die wandlungsfähige Stimme vollzieht mehrere spontane Wechsel zwischen akzentuierter und verwaschener Sprache, während im musikalischen Fundament Techno und Neoklassik immer wieder miteinander verschmelzen. Mit der zwanzigminütigen Umsetzung von P.B. Shelleys “Mutability” schließt sich der Kreis und schwebende, dröhnende Wohlklänge übernehmen das Feld. So wie der Text in Aurelia Thierrees Darbietung die Existenz als permanente Verwandlung feiert, verschwimmen hier Harmonie und Lärm miteinander. Wer denkt, dass die sanfte Schönheit dominiert, wird von immer wieder einsetzenden Brüchen überrascht, die “M” nicht allzu berieselnd ausklingen lassen.

Der Text endet mit dem titelgebenden Wort, mit dessen Initial sich der Themenkreis des Albums dann wieder schließt. Ähnlich wie die minimalisticheren und in technischer Hinsicht sicher einfacher gestrickten Arbeiten von Mark St. John Ellis sind Chaplins Werke von einer Art, bei dir sich beim mehrfachen Hören immer mehr Dimensionen eröffnen, was sie, gerade angesichts des aktuellen Themas, zu einer gewinnbringenden Erfahrung macht. (U.S.)

Label: Fabrique Records