In den frühen Sechzigern schrieb der englische Autor J. G. Ballard eine Reihe an Romanen, in denen es um unerwartete Naturereignisse geht und um ihre “katastrophalen” Folgen für den Planeten Erde und die menschlichen Zivilisationen. Stürme, Hitze und Trockenheit, eine durch Erderwärmung ausgelöste Flut und eine plötzliche Verwandlung organischer Materie in kristalline Strukturen – all diese Ereignisse, die nur teilweise als Folge menschlichen Wirkens dargestellt werden, allerdings fatale und nur schwer zu bewältigende Wendepunkte im Leben (nicht nur) der Menschen darstellen, wirken wie ein überdeutliches Plädoyer gegen ein allzu großes Vertrauen in den Bestand unserer Lebensweise, die sich über die Jahrtausende hinweg vergleichsweise langsam verändert hat.
Es ist nur nachvollziehbar, dass die vier Romane schnell unter dem Schlagwort Disaster Novels bekannt wurden. Wer sich etwas näher mit den Gedanken ihres Autors befasst hat, wird vielleicht einen anderen Begriff bevorzugen, den der Novels of Transformation. Die Auswirkungen der beschriebenen Ereignisse, bei denen die Natur nicht nach unseren Regeln spielt, auf die Psyche der Menschen und die gesellschaftliche Situation, scheinen besonders im Zentrum der Darstellung zu stehen, bei der auch die Reflexionen der Psychoanalyse und die Techniken der Surrealisten Pate standen. Auf der Compilation “Time Ends” präsentieren vier musikalische Acts aus den Grenzgebieten dunkler, ambienter Soundart, Performance und postindustrieller Kollagenkunst kreative Interpretationen dieser Romane. Die Vielgestaltigkeit der Umsetzungen ist beeindruckend: “Sprechende” und atmosphärisch ausgerichtete Soundgebilde kommen ebenso zum Einsatz wie Vocals, Samples und andere sprachliche Querverweise, und über das rein Musikalische hinaus runden das Artwork der Malerin Alex Tennigkeit und ein ausführlicher Essay des Anglisten und Musikjournalisten Michael Göttert das Projekt ab.
Jeder Act hat sich einen Roman vorgenommen, und gemäß einer chronologischen Anordnung eröffnet Johan Levin alias Desiderii Marginis die Compilation mit einer atmosphärischen Interpretation des Romans The Wind From Nowhere (1962). In dem Text, den Ballard selbst als misslungene Auftragsarbeit mehr oder weniger verworfen hatte, geht es um einen weltumfassenden Sturm, der den ganzen Planeten im wahrsten Wortsinne verwüstet und die Menschen größtenteils zu einer unterirdischen Lebensweise zwingt. Irgendwann ist der Sturm vorbei – ob die Gesellschaft zu ihrer alten Lebensweise zurückkehren kann, bleibt offen. Desiderii Margines folgt dem Plot in den 20 Minuten seines primär auf bearbeiteten Field Recordings basierenden Tracks. Aus den gesampleten Sounds des Windes entsteht ein elektrifiziertes Dröhnen, das in unregelmäßigen Wellen rauscht, vibriert, pulsiert und unterschwellige Gesprächsfetzen und vieles mehr anklingen lässt, bis alles in einem enormen atonalen Sog kulminiert. Insgesamt transportiert die Musik eine weite emotionale Stimmungspalette, und Göttert weist zurecht darauf hin, wie gut sich der Gegensatz zwischen der Zuflucht in Inneren der Erde und dem Ausgeseztsein in einem Außen, das immer droht, in den sicheren “Shelter” einzubrechen, in der Musik abzeichnet.
Noch deutlicher illustrieren Troum die parallelen Veränderungen, die eine Naturkatastrophe in der äußeren Welt und im inneren des Bewusstseins bewirken muss. Sie widmen sich in zwei Tracks dem ebenfalls 1962 erschienenen Roman The Drowned World, der eine klimatisch bedingte globale Flut zum Thema hat, welche das Ökosystem auf eine prähistorisch anmutende Stufe zurückwirft und die überlebenden Menschen vor die Aufgabe stellt, sich mit diesem technologisch und psychologisch zu arrangieren. Auf den Rückfall ins Archaische weisen schon (und nicht nur) die Titel hin: “Outside (Archaic Landscape)” präsentiert die veränderte Welt mit einem von Schaben und Rumpeln durchklungenen Dschungelszenario, bei dem man neben atemlosem Murmeln und Stammeln riesige Bäume fallen hört, während ein orchestrales Dröhnen die Signatur des Bremer Duos trägt. “In-Sight (Archaic Mind-Scape)” enthält ähnlich viele Details und wirkt doch entspannter und innerlicher und scheint das Loslassen des Menschen zu illustrieren, der die neuen Gegebenheiten annimmt.
Den größten Bruch zu diesen Ansätzen stellt sicher der primär auf Text und Soundkollagen basierende Beitrag “The Poisoned Well” des Duos Karolina Urbaniak und Martin Bladh dar. Er bezieht sich in wesentlich freierer und abstrkterer Form auf den Roman The Drought (1965), welcher von den Folgen einer globalen Dürreperiode erzählt. In einer zunächst betont unprätentiös vorgetragenen und von markanten Klängen umgebenen Lesung, die Zitate Shakespeares und der Bibel enthält, kreist das Stück um die Auswirkung der Sonneneinstrahlung bei extremer Hitze auf den menschlichen Organismus. Ein Alleinstellungsmerkmal des Tracks ist sicher, dass es hier stärker um den Körper (Strahlung, Verbrennungen u.v.m.) und etwas indirekter um die Psyche der Betroffenen geht, und wer Bladhs Arbeiten mit Skin Area und IRM kennt, wird nicht überrascht sein. Die Beschreibung verstümmelter Körper, die Geräusche von gluckerndem Nass, jammernde und keuchende Stimmen und ein an eine Knochenmühle erinnernder knirschender Lärm, der in aggressive Shouts überleitet, weckt Assoziationen zu dem Begriff Organic Horror, der einmal auf Filme Cronenbergs gemünzt war.
Der musikalische Grenzgänger Anemone Tube bildet mit gleich drei Beiträgen den Schlussteil der Sammlung und widmet sich dem Roman The Crystal World (1966). Der Text erzählt von einer unbekannten Krankheit, die in Westafrika ausbricht und sämtliche Lebensformen nach und nach in kristalline Objekte verwandelt und somit abtötet, und von dem Versuch eines Forschers, diese Verwandlung zu untersuchen. Alle Tracks basieren auf Feldaufnahmen, die der Küstler vor einigen Jahren in Japan gesammelt hat. Das in drei Abschnitte unterteilte “Road to Suffering” enthält ausschließlich Klänge der Fortbewegung im Wald und illustriert so die Erkundung des neuartigen Phänomens aus Ballards Roman. Das anfängliche Szenario mit seinen rauschenden Klangstrudeln, den kakophonischen Schreien und heftigen Detonationen entbehrt keiner Dramatik, und dennoch fühlt man sich als Hörer schnell in einer fast stoisch beobachtenden Position wieder und so ganz auf seine Wahrnehmung zurückgeworfen – eine Position, die die mit schrillen Feedbacks versehene archaische Dröhnung in “Primordial Recollection” über anhält. Das finale “Sea of Trees – Taking Death as Path”, mit dem Anemone Tube die Verschmelzung des Menschen mit dem (kristallinen) Meer der Bäume illustriert, wirkt wie ein letztes keuchendes Aufbäumen der alten, organischen Materie vor der endgültigen Kristallisation. Die Musik ist hier nur die Spitze des Eisbergs eines viel umfangreicheren gedanklichen Überbaus, bei dem der Wald als Symbol einer Pilgerfahrt erscheint – die Gedanken des Musikers dazu und der Bezug zu einem buddhistischen Konzept der inneren Heilung sind ebenfalls im Booklet nachzulesen.
Die Frage, ob die von Ballard entworfenen Szenarien eher vom Niedergang oder von den Möglichkeiten des Annehmens auch drastischer Transformationen handeln (Alex Tennigkeits neosymbolistisches Covermotiv zeigt immerhin eine Art Metamorphose, die die Grenze zwischen organischer und anorganischer Materie bzw. zwischen Mensch und Maschine transzendiert), ist sicher nicht in wenigen Sätzen zu beantworten und schon gar nicht von einem relativen Laien wie dem Verfasser dieser Rezension. Vielleicht sind bei den behandelten Themen aber auch Fragen (Wie ratsam und realistisch sind die Versuche einer Gesellschaft, nach einem Ausnahmezustand wieder zu ihrem früheren Status Quo zurückzukehren?) für die meisten Menschen wichtiger. Eine Stärke der hier vorliegenden Musik ist, dass die Beiträge diese Frage unbeantwortet lassen und doch die Stimmung dieser Literatur gekonnt in ihr eigenes Medium übertragen. Keine Frage, dass die Musik auch ohne Kenntnis der Texte eine intensive Erfahrung bieten kann. (U.S.)
Label: The Epicurean / AufAbwegen