ALLYSEN CALLERY: Lost Children

Wenn man von einem Künstler oder einer Künstlerin welcher Sparte auch immer nicht nur die elaborierten Meisterwerke rezipiert, sondern hin und wieder auch einen Blick in die Skizzen, Entwürfe und halbvergessenen Fragmente wirft, lernt man die Person und ihr Werk oft noch mal auf ganz andere Art kennen und sieht alles bisher gekannte eventuell mit ganz anderen Augen. Voraussetzung ist natürlich, dass jemand in seiner spontanen, einfach gestrickten Seite den speziellen Charme erkennt und bereit ist, die entsprechenden Sachen unter die Leute zu bringen.

Allysen Callery, die mittlerweile zu den renommiertesten Vertreterinnen dunklen Americana zählt, war in der Vergangenheit auch immer um einen guten Sound und ordentliche Produktionen bemüht, was ihrem oft heimeligen und nicht selten unheimlichen Ghost Folk seine Eingängigkeit gab. Für ihr aktuelles Release hat sie, wie der Titel schon sagt, ihre verlorenen Kinder aus allen Winkeln ihres Archivs zusammengesucht: Homerecordings, die meist mit dem Telefon in einem Take aufgenommenen wurden, während im Raum nebenan die Familie ihrer lauten Geschäftigkeit nachgeht, und die vermutlich nie zur Veröffentlichung bestimmt waren. In ihnen lernt man eine Allysen Callery kennen, die sich nicht um Gefälligkeit schert, Dingen ihren Lauf lässt und sich von ganz unterschiedlichen musikalischen Einflüssen mitreißen lässt.

Was an den zwölf Songs schnell auffällt, ist, dass der amateurhafte Klang nicht das Geringste an dem Gefühl von Tiefe ändert, das sich auch sonst im fließenden Gitarrenpicking und den leicht tremolierenden Versen Callerys findet. Gleich die ersten Stücke – das fast im Flüsterton gesungene “Away” und “Bacchus Calls”, eine verhuschte Ode an den Gott des Weines, der laut Thomas Fuller mehr menschen ertränkt hat als Neptun, sind beispielhaft dafür, die mit thereminartiger Stimme vorgetragene Elegie “For whenyou go” und “Hold On” mit seinem folkigen Sopran stehen dem in nichts nach.

Viele der Songs allerdings wie das melancholisch-unruhige “Button Boots” lassen ihre unscheinbare Emotionalität noch deutlicher hervortreten. Ein paar – “Cure & Velvet Underground” und etwas weniger deutlich “This Good Girl” – fallen dann vollends aus dem gewohnten Rahmen und bringen ein fast grunge-artiges Rockfeeling hinein, freilich mit einer ordentlichen Portion Kopfhänger-Vibe. Doch wenn ich einen Song nennen sollte, für den allein sichd as Album schon lohnen würde, dann wäre es zweifelsohne das mollastig aufwühlende “Tell me the spot where my bones bleach white” – wer das Townes van Zandt-Echo in Callerys Musik schätzt muss die viel zu kurze Nummer mit ihrer heiseren Spookyness wie ich in Endlosschleife hören. (U.S.)

Label: Gruselthon / Cosirecords