BALDRUIN: Relikte aus der Zukunft

Vor gerade einmal acht Monaten brachte Johannes Schebler alias Baldruin mit “Kleine Freuden” ein Album heraus, das trotz seiner Opulenz und vor allem wegen der geschlossenen Kompaktheit der einzelnen Stücke ganz im Zeichen der fast schon intim anmutenden Miniatur stand. Seit einigen Wochen steht mit “Relikte aus der Zukunft” nun ein neuer Longplayer in den Regalen, der im Vergleich dazu wie ein Gegenzoom wirkt und die Aufmerksamkeit auf die großen und breiten Zusammenhänge richtet. Schon der Titel könnte zu einem handlungsreichen Film passen, und zu Tracks wie “Hintenherum”, “Wurzeltrank” oder “Ritt auf der Silberechse” könnte man sich fantastische Science Fiction-Stoffe der surrealen Art ausdenken.

Die ersten Minuten des Albums verbreiten eine erwartungsvolle Stimmung: Es klappert und rumpelt, und über einem Sound, der nach Syntie klingt, erklingt das Trillern verschiedener Klangquellen, die Flöten, Klarinetten und ein Saxophon sein könnten, im Zusammenspiel mit flatternden Flügelschlägen aber sofort an verfremdete Vogelstimmen denken lassen. Halbversteckte Glockenschläge im Hintergrund leiten über in ein sakraler anmutendes Setting mit tiefen Tastentönen und etwas, das an Choräle erinnert, und man wundert sich, dass all dies – laut Begleittext – überwiegend einem Midi-Keyboard entstammen soll.

Sanft bimmelnde Glöckchen, spannungsvolle Cellodrones, quirlige Sounddetails, die wie Gummi quietschen; ein vermutlich asiatisches Saiteninstrument, dass mit seinen kreisenden Bewegungen eine entsprechende Melodie anstimmt und weitere folkig eingefärbte Klänge; alarmierende Hochtöner über dunklen, aus der Ferne hörbaren Paukenschlägen; desolate Sounds, die für kurze Momente an Industrial erinnern; sogar eine vervielfachte menschliche Stimme vor einer Kulisse aus Gebimmel und rauschenden Motoren – die klanglichen Details und motivischen Ideen sind in diesem Album beinahe Legion und im ständigen Wandel begriffen. Ist man erstmal vollends in diese Welt eingetaucht, dann halluziniert man vielleicht noch einige dazu. Wenn man also so etwas wie einen roten Faden sucht, dann findet man ihn woanders, z.B. in der aufgeweckten Neugier, die in der Reise durch die verschiedenen Klangwelten spürbar ist. Da scheint man dem Entdecken einer Kultur beizuwohnen, deren Zeichen man wie ein Schwamm aufsaugt, während die eigentliche Erforschung und Kartografierung noch ansteht. Die einzelnen Szenarien wirken wie Momentaufnahmen im Stadium des ersten faszinierten Eindrucks.

Neben “Insel der Hoffnung”, dass in all seiner Verträumtheit und mit gebrochenen Rhythmen so etwas wie der “Hit” des Albums sein könnte, gibt es weitere Wegmarken. Das wäre z.B “Wilde Reise”, eine von rumpelnden Trommelwirbeln und entrückten Flötensounds begleitete Fahrt über Stock und Stein. Außerdem “Vorherbestimmt”, das mit seinen pulsierenden Orchestralsounds wie ein dramatischer Stummfilmscore klingt, der von allerlei destruktivem Klirren begleitet wird und in seiner ganz eigenen Schönheit doch unangetastet bleibt. Vielleicht findet sich auch in dieser Tendenz zur Zerfleddertheit, an deren Grenze sich fast alle Stücke bewegen, und die immer durch eine solide Grundsubstanz eingehegt und zusammengehalten wird, ein Schlüssel zur klanglichen Grund-DNA dieses beeindruckenden Albums.

Label: Buh Records