SANDY CHAMOUN / ANTHONY SAHYOUN / JAD ATOUI: Ghadr

Zwischen einem rein musealen Rückgriff auf etablierte musikalische Strukturen und dem oft zwanghaft wirkenden Bedürfnis nach Neuem, nach ästhetischem Tabula Rasa, gibt es die verschiedensten Wege, und die interessantesten darunter sind wahrscheinlich diejenigen, die die Würdigung tradierter – auch moderner tradierter – Formen mit Innovation verknüpfen. Eine solche – zugegeben allgemeine – Vorstellung scheint auch dem Album “Ghadr – غدر” und seinem Entstehungsprozess zugrunde zu liegen, mit dem die libanesischen Musikerinnen und Musiker Sandy Chamoun, Anthony Sahyoun und Jad Atoui, die alle in der einen oder anderen Form bereits Thema auf unseren Seiten waren, mit Gitarren, modularen Synthies, klassisch grundiertem, experimentell gebrochenem arabischen Gesang und viel Improvisationsgeist im Gepäck einen in all seiner Heterogenität äußerst stimmigen Hybriden geschaffen haben. Das Spiel mit dem Fragmentierten und dem Chaos wäre ein Motto, das man dem in der Schweiz aufgenommenen und in Beirut vollendeten Werk aufkleben könnte, doch damit würde man letztlich eine Menge an weiteren Inhalten und Referenzen verschweigen.

Das Album beginnt mit “Tahal Layl”, einer freien Interpretation eines traditionellen tunesischen Beduinenliedes, das mit den kreisenden Bewegungen eines tanpuraartigen Drones beginnt und Chamouns Stimme als im Wind verwehte, durchdringende Kraft ins Zentrum rückt. Während der Sound sich mit schwirrender Dröhnung und einem regenartigen Rauschen bis zu einer intensiven Noisewand mit lautem Feedback entfaltet, bricht die Komposition mit ihren Zeitstrukturen aus ihren Bahnen und schüttelt alle Erwartungen heftig durcheinander. Ein Gefühl des Zusammenbruchs ist allgegenwärtig, und dennoch bleibt Chamouns Gesang wie eine unumstößliche Botschaft, eine Allegorie der Stetigkeit inmitten des Zerfalls, bestehen. Man mag sich an ihr noisiges Soloalbum erinnern, mehr noch vielleicht als an das Debüt der Band Sanam, an der auch Sahyoun beteiligt ist. “Bihali”, basierend auf der mehr als tausend Jahre alten Poesie von Abou Firas Al-Hamdani, startet mit zarten elektronischen Geräuschen, um dann, aus dem Substrat einer ambienten Dröhnung, sanfte, weltentrückte Synthie-Melodien zu entfalten. Hier klingt Chamouns ornamentaler Gesang beschwörend und scheint immer mehr mit den synkopierten Strukturen zu verschmelzen – fast rauschhaft, und auch dann noch in der Wiederholung des Titels bestehen bleibend, wenn die Komposition sich im Flimmern und Rauschen auflöst. Ein Höhepunkt der Spannung erreicht “Ghadr” auf “Al Moulatham”, einem zitternd startenden, später scharfkantiger konturierten und gegen Ende erschüttert-verzerrten Track, dessen Text direkt einer persönlichen Nachricht aus dem Krieg in Gaza entnommen wurde. Hier scheint die Produktion an der Grenze des Möglichen zu operieren, fast wie ein akustisches Szenario des Ex- und Implodierens. Chamouns Gesang, diesmal melancholisch, fast elegisch, schwebt unheilvoll über dieser Ruinenlandschaft, die immer lauter und beunruhigender wird, als ob die Musik selbst das Trauma auslotet und aufzeichnet.

“Hayawanon Ghader”, das Chamouns eigene Lyrik enthält und – so mag man zumindest zu Beginn denken – vielleicht sogar a capella funktioniert hätte, entfaltet sich wie ein stürmischer Protestsong mit stoischer Intensität und einer Dringlichkeit, die rhythmisch und tonal den Füßen den Boden entzieht. Die harschen rhythmischen Schläge, begleitet von seltsamem Bimmeln, unterstreichen den Klang wie martialische Detonationen, und der Track erreicht eine rohe Dringlichkeit, die Chamouns langgezogene Stimmbeiträge auf kontrastierende Weise umrahmt. Der finale Track “Al Samaa wal Nabaat wal Ghaabaat wal Zaytoun wal Laymoun wal Lawz wal Tin” führt das Werk, fast schon überraschend, in eine introspektive und doch strahlende Abschlussvision: Dröhnend, in seiner scheinbaren Statik fast liturgisch und von organisch anmutender Materialität, kontrastiert die Soundkulisse diesmal mit einem auffallend schnellen rezitativen Gesang, der eine rituelle Hypnotik versprüht. Diese Komposition, basierend auf der Lyrik des zeitgenössischen Dichters Paul Chaoul, webt einen hypnotischen Abschluss und bestätigt “Ghadr”, dessen Titel im Deutschen so etwas wie “Verrat” bedeutet, als eine musikalische Reflexion über zahlreiche, mir aufgrund der Sprachbarriere weitgehend verschlossenen Themen der Verzweiflung und Hoffnung in einer zerstückelten Welt.

Mehr als eine Fußnote ist, dass alle drei Beteiligten unabhängig voneinander an der Compilation “Land 01″ mitgewirkt haben, deren Erlös der Versorgung derer zukommt, die im Zuge des jüngsten Krieges ihr Zuhause verloren haben. (U.S.)

Label: Ruptured