SANDY CHAMOUN: Fata17

Der 17. Oktober ist seit drei Jahren ein im Libanon jedem bekanntes Datum, denn an diesem Tag 2019 brachen in vielen Orten des Landes, v.a. aber in der Hauptstadt Beirut Proteste gegen die politische und ökonomische “Elite” des Landes aus. Ging es zunächst um horrende Steuererhöhungen, denen nichts, wie man unbedarft vermuten könnte, sozialstaatliches anhaftete, so kamen mit der Zeit immer mehr Themen zur Sprache, die lange unter der Oberfläche brodelten: Korruption, ein immer kostspieligerer öffentlicher Aparat, Klientelpolitik und am Ende auch Dinge, die die Rechte von Frauen und Minderheiten betrafen.

Für einen Auswärtigen wie den Verfasser dieses Textes wäre es anmaßend, über den möglichen Verlauf der Proteste und der damit verbundenen Aufbruchstimmung zu spekulieren, zu mutmaßen, ob all dies in dem Land eine wünschenswertere Entwicklung genommen hätte als frühere Revolten in anderen arabischen Staaten – zu hoffen wäre es freilich, zumal hier keiner stereotypen Wahrnehmung von Staaten in dieser Region das Wort geredet werden soll. Mit seinen vielen gesellschaftlichen Gruppen ist der Libanon ein ganz eigener kultureller Kosmos, und das Engagement einiger opossitioneller Gruppen sollte auch ein Grund für Hoffnung sein. Vorerst bereitete die kurz darauf beginnende Pandemie vielen Ambitionen ein vorläufiges Ende, hinzu kam die verheerende Explosion im Beiruter Hafen vor knapp zwei Jahren.

In meiner Rezension zur Compilation “Beirut Adrift” stellte ich bereits fest, dass all diese widrigen Umstände schon lange ein großes Echo unter den Kreativen des Landes hervorgerufen hatten. Auch in den nicht gerade kleinen Communities experimenteller Musik erhoben viele ihre Stimmen, und sei es auch nur in Form eines Widerhalls der bedrückenden Stimmung im Land. Es gab aber auch von Beginn an echte Protestsongs, die die Kundgebungen begleiteten. Hervorgetan hat sich unter anderem die Musikerin Sandy Chamoun, die mit drei Soundscapes nicht nur den betroffenen Akteuren eine Stimme gegeben, sondern auch das Lebensgefühl dieser Zeit hervorragend dokumentiert und kommentiert hat. Als Material verwendete sie zum Teil eigene, aber auch gefundene Aufnahmen von den Protesten, aber auch von zeitgleich in anderen Teilen der Welt (u.a. Irak, Chile) stattgefundenen Kundgebungen. Natürlich ist ein Begriff wie Protestsong fragwürdig gewählt bei dem sound- und lärmorientiertem musikalischen Ansatz der Künstlerin, das soll hier aber egal sein. Vor einigen Wochen erschienen die drei Stücke zusammen auf einem Album bzw einer digitalen EP unter dem schlichten Titel “Fata17″.

Auch wenn vom Winde verwehter Krach, jaulendes Feedback und apokalyptisch anmutende Pauken eine unruhige Stimmung evozieren, ist in den drei Tracks genügend Schönheit und Wärme zu finden, um nicht nur ein Abgesang, sondern auch ein Zeugnis von Mut und Ambition zu sein. “Ahlam al khayal احلام الخيال”, auf deutsch “Träume der Vorstellungskraft”, heißt bezeichnenderweise auch das erste Stück. Vor der Kulisse eines stürmenden Lärmereignisses ertönt der arabische Gesang der Musikerin, dessen kraftvolle Schönheit zwischen Melancholie, Abgeklärtheit und kleinen Hoffnungsschimmern wechselt. Inmitten des gefahrvollen Geschehens kommt es zu Brüchen und Tempowechseln und ein stark verfremdetes Blasinstrument kommt wie ein Kommentar hinzu. Doch der Gesang bildet stets so etwas wie einen roten Faden. Dieser zieht einen immer mehr in die Mitte des Geschehens, wo einem nichts erspart bleibt: Hektische Stimmen, Sirenen und etwas, dass wir Schusssalven klingt, prägen das Bild, doch von all dem lässt sich der Gesang nicht aus der Ruhe bringen: Die Träume aus der Vorstellungskraft sind nicht tot zu kriegen.

Im darauf folgenden “Nas al Wahel ناس الوحل”, das “Menschen des Schlamms” bedeutet, weht der Gesang wie ein Wind durch noch beunruhigendere, beklemmendere Welten, in denen irgendwo unter dem rauschenden Rauch noch der Klang einer Bouzouk zu hören ist. Wie hinter einer Maske ertönt die bebende Stimme, die sich in einigen Minuten zu einem unbarmherzigen und von lärmenden Takten begleiteten Sturm steigert. Die Sanftheit des mit einem Saxophon verwobenen Gesangs und der verspielte trippelnde Beat des dritten Stücks “Soukoun Mouwhesh سكون موحش” darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser, zumindest in Chamouns seinen Worten, das vorläufige Ende, die Rezession der wichtigen Proteste besingt – ein verhaltener, resignativ wirkender Schuss, der allerdings der momentanen Situation ungeschminkt Rechnung trägt, aber auch ein Zwischenresümee, bei dem man sich nicht nur aus Begeisterung für die Musik eine Fortsetzung wünscht! (U.S.)