“The Hip Killers Are Burning Like Devil”. Current 93 in der Berliner Volksbühne

Über CURRENT 93, die nächstes Jahr ihr dreißigjähriges „Band“-Jubiläum feiern, ist viel geschrieben worden, und das zurecht. In den ganzen Jahren gab es für David Tibet nie größere Ruhephasen, einige Alben sind wichtige Wegmarken für Vieles: Für zeitgenössische Musik mit religiösem Überbau. Für schwer greifbare Stilkombinationen und überraschende Zusammenarbeiten. Für eine Gegenkultur, die sich nicht geniert und es vor allem auch schafft, etabliertere Kontexte für sich zu nutzen. Zu guter Letzt auch für eine Entwicklung, die man bei ganz unterschiedlichen Bands wahrnimmt, deren Anfänge in der Zeit um 1980 liegen: Ausgehend von einer rauen, schwergewichtigen Negativität hin zu einer spirituell grundierten Open Mindedness, der bei aller Fokussiertheit auf “letzte Dinge” auch ein hoffnungsfrohes Element innewohnt. Die SWANS entdecken den Song, Diamanda Galas die Harmonie, Nick Cave wird pastoral. All diese Veränderungen, von souverän bis kitschig, finden sich in ganz eigener Form auch in der Welt von Current 93.

Dass David Tibet und seine Mitstreiter auch regelmäßig auf internationalen Bühnen zu sehen sind, war nicht immer selbstverständlich, und auch seit Current 93 vor einigen Jahren das Konzertegeben wiederentdeckt haben, gibt es niemals größere Tourneen, sondern stets nur eine gute handvoll Einzelkonzerte an ausgewählten Orten. Am 28.03. dieses Jahres stand dann auch ein Auftritt in der Berliner Volksbühne auf dem Kalender. Im Unterschied zu früheren Auftritten wurde diesmal ganz auf Support Acts im Sinne von Vorgruppen verzichtet, obwohl mit dem Lineup bestehend aus Baby Dee, Andrew Liles, Keith Wood, James Blackshaw, Alex Neilson und Eliot Bates eine ganze Reihe vorzeigbarer Musiker dabei waren, die allesamt eigene Bandprojekte haben oder als Solokünstler aktiv sind. Einiges wäre da sicher machbar gewesen, aber andererseits – wer will schon bis zu drei Stunden am Abend spielen, und das zum Teil mehrere Abende hinter einander? Stattdessen gab es im Foyer eine Stunde lang elektronische Hintergrundbeschallung für die mit Smalltalk, Schlangestehen, aufgeregter Erwartung und Wiedersehensfreude beschäftigten Besucher. Die Turntables wurden jedoch von keinem Unbekannten bedient, sondern von Jochen Arbeit, bekannt durch Bands wie DIE HAUT und natürlich EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN, zeitweise unterstützt durch Arbeit Junior.

Im Großen Saal ging es dann auch gleich zur Sache, als erster betrat der immer etwas garstig dreinschauende, aber in Wirklichkeit ausgesprochen sympathische Liles die Bühne, und sorgte mit einem Auszug aus BONEY Ms “Rivers of Babylon” für die thematisch passende Einstimmung, sowie natürlich für die ersten Lacher. Einige Minuten später war die siebenköpfige Kapelle auf den geschichtsträchtigen Brettern versammelt und präsentierte sich als das, was sie nun nach einigen Jahren des Livejammens geworden ist – eine äußerst virtuose, gut aufeinander eingestimmte und mittlerweile auch sehr routinierte Rockband. Bis auf eine der Zugaben stammten alle Songs aus der Zeit nach dem Millennium, und auch wenn nur drei Lieder vom 2009er Album “Aleph at Hallucinatory Mountain” gespielt wurden, prägte dessen psychedelisch angehauchter Progrocksound das gesamte Set, bei dem manche Stücke erst nach einer Weile zu erkennen waren. Das traf allerdings auch auf die “Aleph”-Stücke selbst zu. Baby Dees Piano jedenfalls gab dem Opener “Invocation of Almost” einen ganz eigenen Charme, der meines Erachtens die Version auf dem Album übertraf. Zu den Höhepunkten zählte wie bei allen Konzerten der letzten Jahre eine äußerst “groovige” und nichtsdestoweniger dynamische Version des Titelsongs der “Black Ships”, dem apokalyptischen Vorzeigealbum der Band schlechthin. Leider wurde kein weiteres Stück dieses Albums gespielt, und überhaupt sind Current 93 mittlerweile recht weit entfernt von jedem Folksound. Wollte man die neueren Stücke der Band anhand eines kleinsten gemeinsamen Nenners beschreiben, dann vielleicht noch am ehesten als ausladende lyrische Bewusstseinsströme, die bei aller Melodik und allen Schrei-Kaskaden Tibets doch eher rezitativ dargeboten werden – auf dem Hintergrund eines fast postrockigen Fundaments. Postrockig nicht nur wegen der Instrumentierung, sondern auch weil es keine runden, im engeren Sinne songartigen Strukturen mehr gibt, sondern Instrumentalparts in repetitiven Mustern, die sich im Verlauf intensivieren und nicht zwangsläufig nach fünf, sieben oder zehn Minuten enden müssten.

Besonders positiv angetan war ich von den drei Stücken des „Baalstorm“-Albums, die Teil des Sets waren – obwohl ich das letztjährige Werk anfangs recht positiv aufnahm, hatte es bei mir doch keine so große Halbwertzeit. „I Dance Narcoleptic“ allerdings mutierte zu einem der stärksten und rockigsten Stücke des Abends, bei dem vor allem Alex Neilson an den Drums alles gab und auch Liles, der sich insgesamt eher als graue Eminenz um die Elektronik kümmerte, einiges an Perkussion beisteuerte. Bei allem Bedauern über den wohl endgültigen Ausstieg Steven Stapletons, muss man Liles in jedem Fall als würdigen Nachfolger im Kontext der “Schwesterband” anerkennen. Und der junge Drummer, dessen “Faster Pussycat Kill Kill”-Shirt am Abend definitiv Programm war, zählt ohnehin zu den großen Zugewinnen der letzten Jahre. Wer das ähnlich sieht, der sollte mal seine Stammband TREMBLING BELLS ausfindig machen, Freunde klassischer Folkinnovatoren wie PENTANGLE oder FAIRPORT CONVENTION sollten auf ihre Kosten kommen. Bei „The Nudes Lift Shields For War“ und dem orientalisch angehauchten „With Flowers In The Garden Of Fires“ hatte die akustische Seite der Band ihre großen Momente. Gerne hätte ich Eliot Bates’ arabische Laute auch bei den anderen Stücken noch etwas deutlicher gehört – eines der wenigen Mankos eines ansonsten sehr gelungenen Sounds. Komplett am Stück wurde die „Birth Canal Blues“-EP gespielt, in Versionen, die zum Teil noch mehr vom Original abwichen als die Aufnahmen der gleichnamigen Live-EP. So wurde die sehr emphatische Hommage an die verfolgten Christen im Römischen Reich, „Suddenly the Living are Dying“, melodisch stark gedrosselt und so dem „cooleren“ Rocksound der meisten Songs angeglichen.

Das heißt jedoch keineswegs, dass es nicht auch ein paar Schmachtnummern gegeben hätte. Für den melancholischen Part waren überwiegend Songs vom aktuellen „HoneySuckle Æons“-Album (siehe Besprechung) zuständig, bei denen Baby Dee zwischen Piano und elektronischer Orgel changierte und Liles an einer Stelle Armen Ras Theremin vom Band erklingen ließ. Blackshaw, Wood und Neilson steuerten auch hier dezente Rockparts bei, sodass sich die Songs noch mal markant von den minimalen Versionen auf dem Album unterschieden. Die neuen Stücke schienen gut anzukommen, und ich bin sicher, dass sie manche versöhnen werden, denen „Black Ships“ zu heterogen, „Aleph“ zu amerikanisch und „Baalstorm“ stilistisch zu ungreifbar gewesen ist.

Auch wenn die anderen Musiker alles andere als Statisten waren, stand David Tibet natürlich im Zentrum der Bühnenshow. Eine leichte Erschöpftheit schien man ihm anzumerken, und es war schwer zu sagen, ob sie mehr auf die körperlichen oder die nervlichen Belastungen des mehrmaligen Auftretens zurückging. An seiner Bereitschaft zu einer agilen Show änderte das jedoch kaum etwas, und es war beeindruckend zu sehen, wie er bei einzelnen Songs mal die Attitüde des rampenerprobten Rockers, mal die Haltung des Empfindsamen auszuleben vermochte, ohne dabei widersprüchlich zu wirken. Wenn Tibet eines nicht ist, dann ein typischer Neofolkmusiker, der seine manchmal etwas überspannt wirkenden Exaltiertheiten hinter schamhafter Strenge und Haltung kaschiert und somit – eine langweilige, biedere und bestenfalls pseudocoole Show abliefert. Seine Emotionalität reduziert den kraftvollen Charakter seiner Darbietung keineswegs, und auch wenn die offen ausgelebte Trauer um verstorbene Weggefährten vielleicht nicht jedermanns Ding ist, so nimmt man ihm seine emotionale Aufgeregtheit dabei doch ab. In den erhitztesten Momenten erlebt man Tibet so, wie man ihn vielleicht am liebsten sieht: Als exzentrischen Feuer- und Schwefelprediger, dessen religiöse Obsessivität niemals aufdringlich, eitel oder gar missionierend wirkt, und der ebenso sehr norddeutsches Bier liebt und auch schon mal über sich selbst lachen kann. Wer das nicht glaubt, der hat ihn noch nicht zu „Oh Coal Black Smith“ einen Hasen- und Ententanz aufführen sehen.

Natürlich gab es auch den ein oder anderen Wermutstropfen. Ich habe nicht viele Current-Konzerte besucht, aber verglichen mit Shows vor ein paar Jahren wirkte das Zusammenspiel der Musiker fast schon ein bisschen zu routiniert – im Vergleich etwa zu dem experimentierfreudigen Jamcharakter auf dem Roadburn Festival 2008, wo man noch ausprobierte, wie gut sich wohl so unterschiedliche Stücke wie „The Red Face of God“, „Locust“, „The Autistic Imperium“ und „The Dissolution of the Boat ‘Millions of Years‘“ mit dem gerade erst im Entstehen begriffenen „Aleph“-Sound vertragen. Auch vermisste ich die sonst ins Klangbild integrierten Streicher, und so sehr ich auch die neueren Current 93 schätze, finde ich es doch ein wenig schade, dass außer „Oh Coal Black Smith“ nur Songs aus den Nullerjahren gespielt wurden. Michael Cashmore im Publikum zu sehen hatte einige sicher erwartungsvoll auf einen spontanen Gastauftritt gestimmt, der leider ausblieb. Auffällig war zudem eine merkwürdige Diskrepanz zwischen Publikum und Band, die für Current anscheinend seit Jahren typisch ist. Eine Diskrepanz im dem Sinne, dass eine Bande von soliden und doch irgendwie „weirden“ Rockmusikern mit einem äußerst exaltierten Frontmann für eine verhältnismäßig stoische Gemeinde ehemaliger Neofolker, Darkwaver und Industrialheads spielte, die das ganze Spektakel in der szenetypischen Gefassheit wohlwollend zur Kenntnis nahm. Ein durchaus angenehmes und nettes Publikum, und doch kolossal verschieden von dem, was da auf der Bühne zu sehen war, und letztlich liegt der Unterschied in der gar nicht mal so banalen Frage, ob früher alles besser war. Das Publikum sagt ja, die Band sagt nein, so einfach ist das. Als Neilson und Konsorten anschließend durch die Menge gingen und von keinem angesprochen wurden, hätte sich ein unbedarfter Passant glatt fragen können, aus welchen Grund diese Jungs sich ausgerechnet in diese Community verlaufen haben – “ach so, das ist die Band.” Wie dem auch sei, es würde mich freuen, wenn auch solche Fans nicht nur aus Gewohnheit zu Current-Konzerten fahren, und der eine oder andere vielleicht weiß, wer James Blackshaw ist oder John Contreras, und nicht immer nur mit den immer gleichen World Serpent-Assoziationen bei der Hand ist.

Insgesamt also ein gelungener Auftritt und ein schönes, nachhaltiges Konzerterlebnis, und wen scheren schon ein paar kleine Wermutstropfen, wenn man mal wieder „Niemandswasser“ live hören darf, das ja, wie alle Fans wissen, einer der großartigsten Songs auf diesem Planeten ist. (U.S.)

Porträtfoto: Lauren Winton. Konzertfotos: Caillean Kompe

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