ALLSEITS: Hel

ALLSEITS ist der Zwilling von ALL SIDES, dem etwas bekannteren Projekt der Bremer Drone-Spezialistin Nina Kernicke. Ob die beiden Bälger nun aus einem Ei stammen sei dahingestellt. ALLSEITS ist jedenfalls – Freunde des Dark Ambient aufgemerkt – der unterkühltere von beiden, denn im Unterschied zum basslastigeren, organischen Klangmaterial des Schwesterprojektes stehen hier eisig-metallische Klangflächen vorwiegend elektronischen Ursprungs auf dem Programm, die durch ein Land voll unklar umrissener Schatten führen und eine subtile, bedrohliche Stimmung generieren.

Eine solche Ausrichtung ist natürlich wie geschaffen für die altnordische Höllenfahrt, welche die ehemalige TROUM- und YELLOW6-Kollaborateurin auf dem ersten im Alleingang fertig gestellten ALLSEITS-Longplayer „Hel“ in Szene setzt. Altertümlichen Mythen scheint seit jeher das Interesse der Künstlerin sicher zu sein – drehte sich auf dem postrockig inspirierten All Sides-Album „Daedalus“ noch alles um vergebliche Höhenflüge unter gleißender mediterraner Sonne, so zeigen hier die Wegweiser in Richtung nordischer Unterwelt. Man nennt es wohl „dunkel grollend“, was einem direkt beim Eintritt in die dröhnende Tiefe entgegenschallt. Wenn sich der Hall mit der Zeit erst einmal richtig entfaltet, und die Musik eine ganz leicht verzerrte Note bekommt, ist man schon mittendrin in Hels dunklem Universum, kann sich kaum mehr eine andere Welt vorstellen, als die Lande um die Wurzel der Weltesche Yggdrasil, nach der die erste der sechs Kompositionen benannt ist. An einigen Stellen klingt es nach subtil eingewobenen Holzblasinstumenten und Harmoniumsounds, die das elektronisch ambiente Klangbild noch subtiler machen, aber wer weiß das schon. An den lichtarmen Gestaden des unterirdischen Flusses Gjöll nimmt der hintergründige Lärm dann zu und verbindet sich mit verwehtem Rauschen, man fürchtet, dass es einen betäubt, bis plötzlich metallisches Brummen mit herübergeweht wird. Nie nimmt der Aspekt des Flächigen den Klangraum ganz für sich in Anspruch, zu vordergründig ist das stete Auf- und Abebben der Dröhnung und sorgt für Bewegung – langsam, mitreisend, bannend. Auf der Brücke der Riesin Modgudr vernimmt man das Rauschen eines eisigen Windes, überall herrscht eine Atmosphäre dunkler, kalter Verdammnis, und wie ein höhnischer Spott erscheint einem das Licht und die Vorstellung heißen Lavas, das einem noch auf dem Cover entgegen leuchtet und beinahe Erlösung suggeriert. Es folgen Passagen, bei denen die Reise vielleicht dem Nichts, dem absoluten Verstummen haltgebender Klang-Form am nächsten kommt. Nicht nur in solchen Momenten fällt angenehm auf, dass die Künstlerin das Unterkühlte und im Kleinen Raue konstant beibehält und nie zum Düsterkitsch tendiert. Garm, der nordische Zerberos, scheint vor seinem Höhleneingang zu schlafen, doch er lauert nur, untermalt von dunkel pulsierender Minimalst-Perkussion, die sich im Angesicht des Hahnes Fjalar noch verstärkt und fast eine Endlosschleife bildet. Vielleicht bis zu dem Tag, wenn dieser die Toten wecken wird, vielleicht aber auch nur bis zum Höhepunkt der Allseits’schen Klangreise – dem finalen Titeltrack, der das Klangbild um Kernisckes vertraute Muster ergänzt und die Totengöttin selbst mit infernalischen Gitarren feiert. Die mythische Reise ist am Ende angelangt, der musikalische Kreis schließt sich.

„Hel“ weist viele Komponenten auf, deren Terminologie in der Berichterstattung über die Ambientkünste abgegriffen klingen mag: Filmisch, episch, mystisch, hypnotisch, beklemmend u.s.w. – ein in seinem Facettenreichtum gewissermaßen typisches Werk also, das dennoch seine eigene Faszination zu wecken weiß und seinen ganz eigenen narrativen Stationen-Charakter besitzt. Insofern sollte „Hel“ auch nicht nur deshalb das Interesse des Hörers wecken, weil hier – „wie untypisch“ – eine Frau die Regler bedient. (U.S.)