GERECHTIGKEITS LIGA: Dystopia

GERECHTIGKEITS LIGA veröffentlichten Anfang der 80er eine Reihe von Tapes und eine 12″ bevor ihr erstes Vollzeitalbum auf GRAEME REVELLS Label Side Effects veröffentlicht wurde: „Hypnotischer Existenzialismus“ und die Auftritte waren gekennzeichnet von tribaler Perkussion, die weniger vom Futurismus (wie etwa VIVENZA, der sich explizit auf Marinetti berief) beeinflusst war, sondern vielmehr von der Rhythmik in „Primitive Culture[s]“, um einen Titel des ersten Albums zu zitieren – nicht im Sinne eines westlich-herablassenden Blicks, sondern beeinflusst von Eliades Band „Schamanismus und archaische Ekstasetechnik“.

Nach langer Pause, die lediglich seit der Jahrtausendwende durch ein paar Samplerbeiträge, die Wiederveröffentlichung alten Materials und ein paar Auftritte überbrückt wurde, ist „Dystopia“ (erst) das zweite Vollzeitalbum, nun in der Besetzung des in London lebenden Till Brüggemann, der die Band gründete und dem in Berlin ansässigen Ragnar; dabei wird der titelgebende „schlechte Ort“ durch andere Tracknamen („End of Time“, „Fallout“) apokalyptisch(er) ausgerichtet (man sollte nicht meinen Dystopie und Apokalypse seien synonym zu verwenden). Hier meint man sich doch vielleicht ins Berlin der frühen 80er zurückversetzt, als Blixa Bargeld unter dem drohenden Schatten des Atompilzes konstatierte, bald sei Schluss. Der Schatten Fukushimas hat bislang (noch) nicht zu einer ähnlich endzeitlichen Kollektivstimmung geführt, wenn auch zur Renaissance rot-gelber Aufkleber mit lächelnden Sonnen.

Der Eröffnungstrack „Justice“ kombiniert scheppernde und schleppende Perkussion mit rituell-rezitierendem Gesang: Hier wird in einer verlassenen Fabrikhalle inmitten der Überreste einer (ver)fallenden Zivilisation musiziert. „Slash“ dagegen wird von einem Drumcomputer dominiert und gibt dem Stück etwas Atemlos-Gehetztes, während „Clockwork“ an den Opener anknüpft. Die weiteren Tracks bewegen sich im Spannungsfeld von dieser im positiven Sinne archaischen Industriemusik und etwas weniger metallisch klingenden Tracks, wobei das unheilschwangere „Fallout“ fast schon wie ein Minimaltechnostück klingt. Schließlich endet das Album mit dem durch einen Bombastloop geprägten „End of Time“. Die meines Erachtens stärksten Tracks sind die, die sich nach Fabrikhalle anhören und der Gesang sich inmitten des Lärms fast verliert. Da wird man auch etwas an KNIFELADDER erinnert und es ist ganz passend, dass die beiden von John Murphy unterstützt werden, schließlich ist er ein Mitglied letzt genannter Band und spielte außerdem in den 80ern bei/mit SPK .

Bezogen auf moderne Endzeitliteratur stellte der Literaturwissenschaftler K. Ludwig Pfeiffer einmal fest, darin werde entweder „konkretes apokalyptisches Material [benutzt], um damit ideologischen Bedürfnissen den Mantel objektiver Situationsdiagnose umzuhängen. Oder aber sie erstatten apokalyptische Vollzugsmeldung: Der Untergang [...] ist eingetreten, zu verwalten und gestalten ist der apokalyptische Nachlaß.“ Wie auch immer man GERECHTIGKEITS LIGA einordnen mag, eines muss man sagen: Ihre Gestaltung ist fast durchweg gelungen.

(M.G.)