V.A.: Epicurean Escapism

Unter Eskapismus versteht man – kurz gesagt – das Ausblenden der alltäglichen Realität. Will man es genauer wissen, so bemerkt man schnell, dass man ein Fass ohne Boden vor sich hat. Man erfährt, dass Eskapismus oft Kunstwerken nachgesagt wird, in der Regel denen, die nicht direkt Stellung zu Problemen der Zeit beziehen. Vielleicht auch, dass der Begriff erst in der Moderne aufgekommen ist, und für allerlei Fluchtreflexe steht, die eine von Masse und Marktgesetzen geprägte Gesellschaft mit all ihren Entfremdungserscheinungen nach sich zieht. Der mongolische Nomade (den es so freilich auch wieder nur in der Vorstellung von Stammtischsoziologen gibt) kennt weder Entfremdung noch Eskapismus, aber sicher bedeutet Alltag auch in der Moderne stets etwas anderes, je nach der Rolle, die man in seinem Bereich der Gesellschaft einnimmt. Und überhaupt, Flucht für wie lange, wohin und zu welchem Zweck? Flucht als innere Emigration oder als völlige Eremitage? Weshalb diese demonstrative Absage an die vita activa?

Zunächst einmal muss man festhalten, dass Eskapismus kein Konzept ist, sondern vor allem ein emotionales Schlagwort. Befragt man dazu die Intellektuellen, bekommt man recht unterschiedliche Antworten. Natürlich betonen einige das Moment des Mutlosen, Resignativen, das mancher Weltflucht fraglos anhaftet, selbst wenn das Ziel eine künstlerisch ausgearbeitete Fantasiewelt ist. Eskapismus gilt unter solchen Gesichtspunkten als reine Blockade, als Ausdruck eines kindischen Trotzes. Viele allerdings haben ein positives Bild vom Abtauchen in die subjektive Gegenwelt. Für dekadente Autoren wie Huymanns und ihre Erben (Lovecraft, Houellebecq) impliziert eine solche Flucht die radikale Kritik an einer sozial verkümmerten Gesellschaft. Für Philosophen wie Ernst Bloch ist er zugleich Möglichkeit zur Regeneration und ein Quell der Kreativität, die oft erst im Zustand der Sammlung und des vorübergehenden Ausklammerns alltäglicher Einflüsse gedeihen kann. Eine Quelle ebenso für neue Sichtweisen auf die Welt, im Idealfall fern von Masse, Markt und funktionalem Räderwerk. Werke, die unter einem solchen Movens entstehen, sind oft ambivalent und meist auch eher düster als blumig, denn sie tragen die Angst und den Hass gegen eine Realität in sich, die sie zu vermeiden suchen. Bloch sah seinerzeit gerade die Musik als besonders geeignet, ein solches Gefühl und die damit zusammenhängende Utopie umzusetzen. Auch auf der am 07.07. in Berlin stattfindenden Veranstaltung „Epicurean Escapism – Festival for Escapist Music & Arts“ liegt ein besonderer Fokus auf Konzerten, abgerundet durch Beiträge aus bildender Kunst, Performance und Film. Ein noch offensichtlicherer roter Faden ist die Tatsache, dass alle beteiligten Künstler mehr oder weniger in der Tradition des Industrial stehen.

Begleitend erscheint die vorliegende Tape C-50/DVD-R-Compilation, auf der alle Teilnehmer mit einem exklusiven (oder exklusiv bearbeiteten) Beitrag vertreten sind. Der Auftakt des Tapes hält gleich die größte Überraschung bereit, denn „Drain Sounds in the Well“ ist seit Jahren der erste Track, den der bekannte Drummer und Klangkünstler John Murphy unter seinem Projekt Krank veröffentlicht, diesmal in Zusammenarbeit mit Till Brüggemann von Gerechtigkeits Liga. Mit Mischpult und Field Recordings wird eine primitivistisch ausgestaltete Klanglandschaft entworfen, die neben jeder Menge Gefiepe vor allem durch metallische Perkussion geprägt ist. Wie ein Großteil der Beiträge ist das darauf folgende Anemone Tube-Stück von eher flächiger Struktur. „Dream Landscape“ ist eine neu abgemischte Version des Titelstücks vom 2010er Album; eine intensive Traumlandschaft voll bedrohlicher Nachtgesichte bewegt sich auf den Hörer zu, und wer sich dem lärmigen Dröhnen nicht entziehen kann, verliert sich am Ende im Sog der Klänge. Die schwedische Combo IRM liefert einen rauen Live-Track, der in seiner fließenden Vorwärtsbewegung an Anemone Tube anknüpft. Das Soghafte des Vorgängerstücks indes tritt zugunsten eines verzerrteren Klangbildes etwas zurück, der sich mit der Zeit verdichtende Sound wird von entmenschlichten Schreien akzentuiert, die man von früheren Aufnahmen der Gruppe kennt.

Jarl, das Projekt eines der IRM-Musiker, widmet sich in „Succubus“ dem Mythos des teuflischen Blutsaugers in Gestalt einer schönen Frau. Im Zentrum der Musik steht ein minimaler Loop, der von der Klangfarbe her sogar im klassischen Sinne schön ist. Im Verlauf ergänzt durch Bassgebrumme erzeugt er die organischsten Momente der kleinen Sammlung, melancholische Ambientsounds geben dem Stück zudem eine markante Spannungskurve. Mit „Obsession Intermezzo“ und „Path of the Unwanted“ ist Human Larvae, ein deutsches PE-Projekt, gleich mit zwei Tracks vertreten. Was noch wie hintergründiger Ambient beginnt, steigert sich graduell zu infernalischem Noise mit doomigen Untertönen, v.a. der zweite Track zählt mit seinen verzweifelt herausgebrüllten Vocals zu den intensivsten Momente des Tapes. Dissecting Table, einer der musikalisch oft „westlicher“ orientierten Japanoise-Acts, trägt ein sehr eigentümliches Klanggebilde voller Zitate bei, die an sleazige Filmmusik erinnern und aus jeglichem Noiseklischee angenehm herausstechen. Ähnlich dem Beitrag von Krank und im Unterschied zu den europäischen Acts ist „Human Sacrifice“ weniger fließend, sondern eher ein Panorama an merkwürdigen Sounds. Mit „In A New Light“, einem bisher unveröffentlichten Stück aus der „Dream Landscape“-Session, sorgt Anemone Tube mittels verhallter Streicher, Radiosamples und verfremdeter Stimmen für einen desolaten Ausklang. Martin Bladh von IRM und Skin Area ist auch Performancekünstler und Kurzfilmer, ein vor einigen Jahren etwas untergegangener und mittlerweile längst vergriffener Film von ihm erscheint auf der beiliegenden DVD-R. Freunde des Wiener Aktionismus und sleaziger Überschreitungen werden an dem Video ihre Freude haben. Unter denen, für die Noise-Kultur reine Musik ist, gibt es sicher einige, für die „Pig and Tomboy“ gewaltig an den Grenzen des guten Geschmacks kratzt.

Was diese Compilation auszeichnet ist die mehr als solide Balance zwischen Qualität und Vielseitigkeit. Gerade letztere sollte man bei dem mittlerweile schon recht alten Genre Industrial mit all seinen epigonalen Erscheinungen durchaus lobend hervorheben. Krank steht für die verspielte Seite des experimentellen Noise, Anemone Tube für dessen surreale, kontemplative Natur. IRM und ihre Ableger verkörpern (in Vermeidung des etwas abgedrosschenen Wortes “transgressiv”) den extremen, provokativen Performance-Charakter, Human Larvae die fatalistiche Dunkelheit und Dissecting Table stehen letztlich für die derangierte und hedonistische Seite einer Musiktradition, die in den späten 70ern ihre Initialzündung erfuhr. All dies unter dem Begriff des Eskapismus zu fassen, hebt sicher ein Element unter anderen besonders hervor – Industrial hatte ja auf der einen Seite stets einen starken Wirklichkeitsbezug, schon da er den Sound der Produktionsprozesse ins Zentrum seines Stils stellte. Dagegen steht indes eine Haltung größtmöglicher Negation, sowie die Tatsache, dass viele im Industrial verwurzelte Konzepte später eine mystische Färbung bekamen (aus TG entstanden Psychic TV und später Coil, the rest is history). Ein interessantes Konzept also, dass auch in festgefahrenen Gemütern neue Reflexionen über die Funktion von Gegenkultur entfachen könnte.

Die Tape/DVD-R-Compilation erscheint in hundert Exemplaren in silberner oder roter Hülle. Das Festival findet kommenden Samstag im Berliner Veranstaltungsraum “FEED” statt.

Labels: The Epicurean/Silken Tofu

Festival-Programm