ANEMONE TUBE AND DISSECTING TABLE: This Dismal World

Ebenso wie die letzten hier besprochenen Veröffentlichungen von Anemone Tube ist auch diese Split-LP mit Dissecting Table stark konzeptionell ausgerichtet: So geht es auf dem Album um die vier edlen Wahrheiten, die das Fundament des Buddhismus darstellen. Diese lauten, dass das Leben leidvoll ist (vgl. den Titel des Albums), dass die Ursachen für dieses Leid(en) u.a. Hass und Gier sind, die Auflösung dieser Ursachen das Leiden zum Erlöschen bringen kann, und dass man dies durch den edlen achtfachen Pfad schaffen kann.

Die Basis der beiden Stücke von Anemone Tube bilden – wie auch schon auf „Death Over China“ – wieder Feldaufnahmen. Der Titel des ersten Stücks, „In The Mausoleum“, gibt einen Hinweis auf den Ort, an dem diese gemacht wurden, nämlich im Mausoleum des chinesischen Revolutionsführers Sun Yat-Sen. Der zehnminütige Track ist eine dem Titel angemessene dunkle Klanglandschaft – als Dark Ambient möchte man das Stück nicht bezeichnen, denn dafür ist es zu unruhig und rau. Hier werden die Feldaufnahmen zu einem dunklen Grundrauschen verdichtet, das dennoch aus unglaublich vielen Teilen zu bestehen scheint. Gegen Ende wird der Druck etwas zurückgenommen, man meint Stimmen zu hören. Das dann folgende etwas kürzere „From Anthropocentrism to Demonocentrism“ – hier wurden die Feldaufnahmen in buddhistischen Tempeln in Nanjing und Shanghai gemacht – ist ruppiger, aggressiver und nähert sich der rauen Seite des Industrials an. Wie auch schon auf anderen Alben Anemone Tubes zeigt sich, wie kraftvoll und bar jeder Klischees Power Electronics klingen kann.

Die B-Seite wird von einem langen Track von Dissecting Table, dem Einmannprojekt von Ichiro Tsuji, gefüllt. „1000 Tones“ ist ein monumentales Stück, bei dem die für spätere Dissecting Table so typische Metall-Perkussion rituell klingende Stimmen untermalt und den Hörer für zwanzig Minuten in eine Welt versetzt, in der der Verstand keine Rolle mehr zu spielen scheint. Ichiro Tsuji rezitiert – wobei das kaum das passende Wort ist, um zu vermitteln, was er alles mit seiner Stimme macht – die 25. Lotus-Sutra, deren Text zweisprachig dem Album beiliegt.

Das ist ein Album, das auf zweierlei Ebenen funktioniert. So können diese drei Stücke sicher auf überzeugende Weise die dunkle, Leiden schaffende Seite des Lebens illustrieren – aber selbst wenn man keinerlei Informationen über das zugrundeliegende Konzept, über die verwendeten Texte und die Orte, an denen die Aufnahmen gemacht wurden, hätte, so könnte man sich auch rein am Klang der drei Tracks erfreuen, die verdeutlichen, dass Geräuschmusik nicht gleich Geräuschmusik ist und dass atonale(re) Musik unglaublich differenziert sein kann. Dass die Veröffentlichung wieder von James Plotkin brillant gemastered wurde, ist da nur noch das sprichwörtliche i-Tüpfelchen.

M.G.

Label: Peripheral Records