Es gibt wahrscheinlich keine kulturelle Szene, die so auratisch aufgeladen ist, wie die Islands, was natürlich auch mit den Assoziationen zu tun hat, die die kleine Insel oft hervorruft. Gleichzeitig lauert hier natürlich an jeder Ecke die Gefahr des Klischees, der Stereotypisierung und damit letztlich Simplifizierung. Insofern ist es gut, wenn man mit einem Künstler spricht, der ein nicht wegzudenkender Teil des musikalischen Lebens Islands ist, der fast von Anfang an, seit den frühen 70ern, die Musik dort (mit)geprägt hat und dessen Mitwirken in zahllosen Bands und Projekten verdeutlicht, dass die Zusammenarbeit ein elementarer Bestandteil der isländischen Kultur ist, wie Hilmar Örn Hilmarsson im folgenden Interview erwähnt.
Neben seiner Beteiligung an Bands wie Frostbite oder Grindverk, seiner Zusammenarbeit mit Psychic TV, Current 93 oder Sigur Rós, ist er inzwischen vor allem als Filmkomponist bekannt, insbesondere für seine zahlreichen Arbeiten mit dem Regisseur Friðrik Þór Friðriksson.
Schaut man sich das Werk des Isländers an, dann hat man oft den Eindruck, dass seine Arbeiten tief in der Geschichte und Kultur Islands verwurzelt sind und sein vergangenes Jahr zusammen mit Steindór Andersen aufgenommenes und bei 12 Tónar veröffentlichtes Album „Stafnbúi“ zeigt das erneut, steht hier doch die isländische Rímur-Dichtung im Zentrum. Diese Verbundenheit mit Island zeigt sich auch in einem weiteren Interessensschwerpunkt Hilmar Örn Hilmarssons, ist er doch seit 2003 Allsherjargoði der Ásatrúarfélagið, der 1972 gegründeten Glaubensgemeinschaft.
Lass uns mit deinem jüngsten Release “Stafnbúi“ beginnen. Als ich das Album hörte, musste ich wegen des Streichereinsatzes bei einigen Songs an deine Soundtracks denken. Aber zum Ende gibt es dann auch einen ziemlich modernen Song. Im Booklet der CD schreibst du, dass Rímur immer auch den Zeitgeist reflektieren. Würdest du sagen, dass sie eine Form der Literatur sind, die sich leicht in unsere Zeit übertragen lässt?
Ja, das geht definitiv, weil wir einen Dichter wie Þórarinn Eldjárn haben, der auch im Text genannt wird und moderne rímur verfasst hat. Eine ganze Reihe an Leuten hat die Tradition mit großer Vorsicht in die moderne Zeit überführt und mit modernen Referenzen versehen. Ja, man kann so etwas auf jeden Fall tun, aber es muss mit Sorgfalt und Respekt getan werden.
Und wie hast du es geschafft, diese zwölf Texte für die CD aus den vielen existierenden Texten auszuwählen?
Darum hat sich hauptsächlich Steindór gekümmert. Wir wählten die Rímur-Melodien zusammen aus. Er hatte Zugang zu einer Sammlung von Aufnahmen, die in den 1930ern von der Iðunn-Gesellschaft angelegt wurde. Zweihundert davon wurden auf CD zusammen mit einem Buch veröffentlicht. Es gibt ungefähr dreihundert, die noch unveröffentlicht sind, und wir benutzten noch andere von einer jüngeren Aufnahme, deren Melodien wir sehr mögen. Wir hatten die Sammlung auf fünfzig Texte ausgedünnt. Die Dichtung ist größtenteils aus dem frühen 20. Jahrhundert, so gesehen ist es kein großer Teil der Rímur-Tradition an sich.
Als ich den Text im Buch las, war ich erstaunt darüber, dass diese Art Literatur keineswegs nur isländische Themen behandelte, sondern auch solche aus anderen Ländern. Es gibt sogar ein Ríma über Walt Disney.
Ja. (lacht)
Die Bilder, die für das Buch ausgewählt wurden, zeigen euch beide in der Landschaft Islands. Denkst du, die Bilder illustrieren, wie tief die Rímur in Island, im Ländlichen verwurzelt sind?
Die Rímur gehören in akustische Räume wie diese, weil sie ursprünglich draußen im Freien rezitiert wurden, an sehr kleinen Orten. Deshalb war damals das Echo anders. Ich denke, die Rímur sind dieser Art von Umgebung angemessen.
Du schreibst viel über die Geschichte der Rímur-Dichtung. Hast du eine bevorzugte Theorie über ihre Entstehung?
Ich denke, ich habe mehr oder weniger erwähnt, dass es im 19. Jahrhundert ein seltsames Aufeinandertreffen einer traditionellen Vorlage der britischen Inseln und etwas aus Südeuropa mit den Troubadouren war.
Ich denke, es war in erster Linie eine Fusion aus der alten poetischen Tradition, die aufgrund ihrer Komplexität niederging, und etwas, das ein bisschen einfacher und melodischer war. Es war ein Fenster zur äußeren Welt. Es ging nun auch um das, was am Hof in Norwegen los war, oder in Dänemark und Schweden, es gab Romanzen aus Frankreich und eventuell Südeuropa; das ist also wie eine Version von CNN, um zu sehen, was in der Welt um einen herum geschieht.
Mir hat gut gefallen, dass du das metaphorisch als den Euro Pop dieser Tage bezeichnet hattest. Aber lass uns auf einige deiner anderen Aktivitäten zu sprechen kommen, denn du bist ja nicht nur Musiker, sondnern auch im religiösen Bereich tätig. Würdest du sagen, dass diese beiden Bereiche – Musik und Religion – getrennt sind, oder gibt es da eine Art Balance?
Ich denke, sie sind Ausdruck der gleichen kosmologischen Weltsicht. Ich denke, Musik und Religion sind im Grunde ein Ausdruck ähnlicher Dinge. Ich denke, dass religiöse Gefühle und ein Sinn für Ehrfurcht vielleicht besser in der Musik als in jeder anderen Kunstform dargestellt werden können. Wenn du etwa an Johann Sebastian Bach denkst, bei ihm kannst du es in der Musik hören. Und er wurde der fünfte Apostel genannt. Ich denke, Musik ist irgendwie eine Art Ausdruck eines religiösen Sinns.
Dann ist ein Werk wie “Odin’s Raven Magic” vielleicht ein besonders gutes Beispiel?
Ja, ganz sicher, weil das etwas war, über das ich schon jahrelang nachgedacht hatte. Irgendwie die Bildlichkeit dessen, was ich im Text gesehen habe, in eine Kunstform zu bringen. Es war eine sehr bewusste Entscheidung.
Gibt es Pläne, das auf DVD herauszubringen?
Oh ja. Wir haben den Mix schon vor acht Jahren angefertigt. 2005 war das. Das Problem war, dass die begleitenden Visuals nicht nach unserem Geschmack waren und einen seekrank machen konnten. Es gab etliche Kameras und all das Zeug. Wir mochten das reguläre Material gar nicht. Es gibt eine Person, die heute eine Menge Archivmaterial benutzt, das mit dem Konzept zu tun hat. Wir warten immer noch. Wenn wir mit dem Resultat zufrieden sind, wird es auf DVD herauskommen.
Man hört oft, dass in Island Elemente der christlichen und nordischen Religion zu einem hohen Grad koexistieren. Was hat dazu geführt, dass du dich für den heidnischen Weg entschieden hast?
Ich hatte einfach das Gefühl, dass das Christentum meine religiösen Bedürfnisse nicht richtig erfüllt. Ich denke ohnehin, dass die Situation des Christentums in Island deshalb ein bisschen seltsam ist, weil das Land nie ernsthaft christlich geworden ist. Die isländische Kirche war seit Beginn des 20. Jahrhunderts ohnehin eher spirituell ausgerichtet. Mehr an Medialität und dem Leben nach dem Tod interessiert als an Wohltätigkeit. Meine Art, die Welt zu sehen, wurde viel besser durch die heidnische Perspektive repräsentiert als durch den so genannten christlichen Blickwinkel. Ich denke aber, dass das isländische Christentum nicht so weit weg ist vom Heidentum. Es ist sehr pantheistisch. Die meisten Leute haben einen Sinn für die Bedeutung der Natur im Leben. Ich denke, es ist besser, ein guter Heide zu sein als ein schlechter Christ. (lacht)
Was die heidnischen Elemente im Christentum betrifft, warum denkst du, funktioniert das in deinem Land so gut, während andere sich damit schwer tun?
Wahscheinlich hat es damit zu tun, dass Island durch einen politischen Beschluss christlich wurde, weil alle Märkte dicht gemacht worden sind. Das Christentum war so etwas wie die EU dieser Zeit, es wurde wegen des Handels gebraucht. Es lief so ab, dass die Häuptlinge alle die gleichen Rollen wie zuvor innehatten und bloß ihre Namen änderten. Es gab dann schnell viel Druck aus Rom, denn jeder Priester hatte Frauen, Geliebte und Kinder. Wir beschlossen, niemals auf eine äußere Autorität zu hören, und so schenkten wir Rom kein Gehör. Später wurde Island dann unabhängig. Wir haben uns nie gerne von anderen regieren lassen, wir haben immer gegen solche Dinge rebelliert. Ich halte das nicht für seltsam. Wir sind so weit weg, keiner konnte je Macht über uns ausüben.
Es ist also ganz gut, so weit ab vom Schuss zu leben.
Ja. Absolut. (lacht)
Als ich in Island gewesen bin, habe ich gehört, dass die kreative Szene in eurem Land sehr familiär sei. Die Leute kennen sich alle unter einander. In Reykjavik scheint alles nachbarschaftlich zu sein. Würdest du trotzdem sagen, dass es dort ein globales Element gibt?
Ich denke, das Globale begann mit Bands wie Þeyr und Kukl und später dann mit The Sugarcubes. Es waren diese Leute, die als erste Verträge im Ausland schlossen und wirklichen Kontakt knüpften zu wichtigen Stellen, hauptsächlich in England, später auch in den Staaten. Ich denke, der globale Teil kam wahrscheinlich von einer Gruppe Leute aus den frühen 80ern. Und davor hat es auch immer Versuche von Musikern gegeben, die aber zu sehr versucht hatten, populären Trends nachzueifern, weshalb sie schnell vergessen wurden. Was passierte war, dass diejenigen Leute, die aus einem isländischen Blickwinkel und auf originelle Art arbeiteten, die Kontakte knüpften. Es dauerte sehr lange. Ich denke, das Wichtigste ist, dass die Leute sich gegenseitig unterstützen, und das beste, was man über die isländische Szene sagen kann – viel Gutes kann über sie gesagt werden, aber das ist das beste – ist die Kollaboration. Wir arbeiten wirklich nicht in der Isolation. Die Zusammenarbeit ist wirklich einzigartig.
Lass uns etwas über deine Filmmusik reden. Außerhalb Islands ist “Children of Nature” vielleicht dein bekannteste Soundtrack. Du hattest auch Auszüge deiner Kollaboration mit Current 93 verwendet. Kommt es öfter vor, dass du auf bereits vorhandene Musik zurückgreifst, oder dass Ideen von dir in verschiedenen Arbeiten auftauchen?
Nein, ich denke, das war nur dieses eine Mal so. Es gab noch einen Soundtrack fürs Fernsehen, wo ich bereits fertige Sachen verwendet habe. Bei “Children of Nature” und der Arbeit mit Current 93 passierte das einfach zur gleichen Zeit, die Dinge überschnitten sich, so dass es sich einfach natürlich ergab. Ich habe das auf die Art nicht mehr gemacht. Auf eine gewisse Art, war es eine einzigartige Zeit, ein einzigartiger Moment.
Um kurz auf etwas Witziges zu kommen: Auf “Island” redet jemand über eine Zigarettenfabrik. Was hat es damit auf sich?
Oh, das ist Einar, der Sänger von The Sugarcubes und Kukl. Er redet über die Zigarettenfabrik seines Großvaters in Deutschland. Ja, sein Großvater hatte diese Zigarettenfabrik. Der Name war Papafoti, es ging um die verlorene Ehre der großväterlichen Tabakfabrik.
Das löst das Rätsel.
(lacht)
Ich erinnere mich an ein Interview, in dem du gesagt hast, es habe einmal Pläne für eine Fortsetzung von “Island” gegeben.
Das war sehr schade, denn ich habe zu der Zeit auf einer anderen Insel bei Dänemark gelebt, ich wohnte in einer alten Pfarrei neben einer schönen kleinen Kirche. Ich hatte die Schlüssel zu der Kirche, die eine sehr gute Akustik hatte, und ich spielte dort öfter auf der Orgel. Da hatte ich dann die Idee, dass wir einen zweiten Teil aufnehmen könnten. Ich hätte den Aufnahmebus vom dänischen Radio ausborgen können, aber irgendwie war es gerade für David keine gute Zeit. Er kam vorbei und wir machten Pläne, doch als die Gelegenheit da war, konnte er nicht vorbei kommen. Ich hatte ein paar Songs geschrieben und ich wusste, dass er uch ein paar Lyrics geschrieben hatte, aber es kam nicht dazu und ich weiß nicht warum. Ich glaube, es wäre wunderbar gewesen, denn es wäre eine echt einzigartige Platte gewesen.
Wenn man das hört, dann ist es schade, dass daraus nichts geworden ist. Um noch mal zu deiner Filmmusik zurück zu kommen. Würdest du bei “Children of Nature” oder “Angels of the Universe” sagen, dass die Filme ohne deine Musik etwas weniger halluzinatorisch und etwas “realistischer” wären?
(Lacht) Ich habe keine Ahnung, absolut nicht. Ich bin nicht sicher, denn Fridrik ( Thor Fridriksson), der Regisseur, und ich glauben ja beide stark an eine magische Wirklichkeit. Das ist etwas, dass sein geamtes Werk durchzieht, und meines ebenso. Eine Welt, die etwas mehr magisch ist. Vielleicht mache ich nur, was getan werden muss.
Das nimmt ein bisschen vorweg, was ich als nächstes fragen wollte: Du hast für ganz unerschiedliche Arten von Filmen gearbeitet. “Children of Nature” ist ein ganz anderer Film als “Reykjavik Whale Watching Massacre”. Hast du da unterschiedliche Herangehensweisen, oder machst du einfach, was dir bei dem jeweiligen Film angemessen erscheint?
Ich kann nicht an jedem Film arbeiten, für den ich ein Angebot bekomme. Es muss in dem Film etwas geben, das mich anspricht. “The Reykjavik Whale Watching Massacre” basiert auf dem Skript eines alten Freundes von mir, Sjón, wir kennen uns schon seit Jahrzehnten und haben den gleichen Sinn für Humor. Den gleichen Sinn für verrückte Anspielungen. Ich mag das, weil ich weiß, wo er seine Ideen herbekommt, wir beide mögen kleine Fingerzeige. Meist komponiere ich für Filme, die mich in irgendeiner Art ansprechen: Ich mag die Regisseure, ich mag die Drehbücher.
Arbeitest du an mehreren Projekten gleichzeitig oder vollendest du erst eins, bevor du mit dem nächsten anfängst?
Ich würde gerne immer nur an einer Sache arbeiten, aber ich muss meistens an mehreren zugleich arbeiten. Im Filmgeschäft lässt sich der Zeitplan manchmal nicht einhalten, und dann passieren machmal irgendwelche Dinge früher als geplant. So kommt es zu Überlappungen. Ich mag das nicht, aber ich muss es so machen.
Eine letzte Frage hätte ich noch. Du warst über die Jahr in viele unterschiedliche Projekte involviert. Gibt es zur Zeit irgendwelche Projekte außer deinen Arbeiten für Filme?
Es gibt da ein Stück, an dem ich seit vielen Jahren arbeite, das einige Veränderungen benötigt. Es ist prinzipiell ein orchestrales Werk mit visuellen Elementen. Inspiriert dazu hatte mich die Geschichte der Wissenschaft und der Musik, und es soll auch ein Kommentar auf die Zeit sein. Ich habe vor sechs Jahren versucht etwas zu dem Thema für das Icelandic Festival of the Arts machen, zusammen mit einem Orchester. Die erste Idee dazu hatte ich bereits in den späten 80ern. Ich habe Teile daraus genommen und sie anderswo verwendet. Wegen der visuellen Seite, wo die Möglichkeiten mit neuer Technologie ja wesentlich besser geworden sind, würde ich es hassen, es auf die Art zu präsentieren, wie ich es vor zehn Jahren im Kopf hatte.
(M.G., U.S., T.E.)
Schwarzweißfoto: Dagur Gunnarsson.
Landschaftsaufnahmen: M.G.