Von allen (ehemaligen) Throbbing Gristle-Mitgliedern ist Chris Carter vielleicht derjenige, dessen Nimbus (fast) einzig und allein aus seinen musikalischen Leistungen resultiert und weniger aus außermusikalischen Transgressionen. Sein Einfluss auf die Entwicklung elektronischer Musik ist wohl kaum zu überschätzen.
Sein erstes Soloalbum seit 17 Jahren ist im Zeitraum zwischen 2010 und 2017 entstanden und enthält 25 elektronische Miniaturen – viele der Stücke sind um die zwei Minuten lang – , die trotz all ihrer Heterogenität ein erstaunlich kohärentes Album ergeben. In einem Interview meinte Carter, dass insbesondere bei Synthesizern im Studio die Gefahr des „Mäanderns“ da sei, insofern erklärt das vielleicht die Kürze der Stücke – die sich allerdings nie unfertig anhören. Carter spricht auch von dem Einfluss des BBC Radiophonic Workshop und britischen Folks auf das Album. Was auf den ersten Blick bezogen auf dieses rein elektronische Album überraschen mag, ist durchaus stimmig, denn auf “Chemistry Lessons Volume One” gibt es sowowohl pastorale als auch irritierende Momente, die darauf hinweisen, dass (guter) Folk oftmals auch immer eine dunkle Seite hat, die Unterdrücktes und Verdrängtes freilegen kann.
Eröffnet wird das Album von dem wunderschönen Elektropopsong „Blissters“, der anfangs an frühe Chris & Cosey denken lässt, auch wenn die Stimme dem Stück einen fast schon sakralen Charakter gibt. Dabei lassen die bearbeiten Vocals, die hier und auf einer Reihe weiterer Tracks eingesetzt werden, an das denken, was Peter Christopherson vor einigen Jahren mit The Threshold Houseboys Choir gemacht hat. Chris Carter, der nach dem Tod des Bandkollegens die Arbeit an “Chemistry Lessons” erst einmal ruhen ließ, weist auch direkt darauf hin: “Sleazy and I had worked together on ways of developing a sort of artificial singing using software and hardware. This was me trying to take it a step further. I’ve taken lyrics, my own voice or people’s voices from a collection that I’d put together with Sleazy, and I’ve chopped them up and done all sorts of weird things with them.” Ist “Blissters” von einer ergreifenden Melancholie durchzogen, erzeugen “Cernubicua” oder „Rehndim“ dagegen eine fast schon positive Stimmung, während „Ghosting“ (dem Titel entsprechend) von schemenhaften, kaum einzuordnenden Stimmen durchzogen ist – und gerade den Stücken, auf denen Vocals eingesetzt werden, haftet etwas Anders- und Außerweltliches an, Grenzen zwischen Mensch und Maschine verschwinden vielleicht nicht, aber verschwimmen auf jeden Fall: Träumen die „Sänger“ dieser Stücke von elektrischen Schafen? Sind sie „ghosts in the shell“?
Dunkle Soundflächen finden sich auf „Corvus“. „Time Curious Glows“ hat fast Soundtrackcharakter. Dann gibt es technoidere Stücke wie “Durlin“, „Lab Test“ und „Modularity“ oder auch Tracks, die programmatische und selbstreflexive Titel haben, etwa das treibende „Noise Floor“ oder „Post Industrial“ – letzteres erinnert mit seinen dunklen, surrenden Soundschleifen etwas an die X-TG-Aufnahmen.
Vielleicht ist das fragmentierte Cover eine gute Illustration dieser Ansammlung in sich abgeschlossener Miniaturen, die der Komplexität elektronischer Musik in all ihren Facetten mehr als gerecht werden. (MG)
Label: Mute