MARGENROT: Zangezur

Kühle, monumentale Elektronik an der Grenze zum Industrial, mysteriös wabernde Melodien und ein noch mysteriöserer Gesang, der kaum verständlich aus den Tiefen eines Schachtes nach oben dringt, dazu die einlullende Melodie eines orientalisch anmutenden Blasinstrumentes – in den Tagen vor der universellen Verfügbarkeit von fast allem, als man außer Booklets und Fanzines kaum Informationsquellen zu obskuren Projekten hatte, hätte ein Act wie Margenrot unter “elitären” Auskennern der Underground-Künste einen kleinen Kult ausgelöst. Wie man damals auf das stylische, griffige Sounddesign reagiert hätte, muss für immer Spekulation bleiben.

Erst nach Jahren wäre irgendwo ein Interview erschienen, in dem Lusia Kazaryan-Topchyan, die in Moskau lebende Frau hinter Margenrot, etwas Licht ins Dunkel gebracht hätte. Von ihrem Wave-Trio Fanny Kaplan, in dem sie singt und Keyboard spielt, hätte sie kurz berichtet, mehr noch von der armenischen Herkunft ihrer Familie und ihrem Interesse an der ins Mythische getauchten Geschichte dieses Landes. Dort, in den Wirren des 14. Jahrhunderts, als der mongolische Feldherr Timur Leng (Current 93 widmeten ihm einst einen Song) seine Horden bis in den Kaukasus schickte, findet sich auch der Ursprung des Titels ihres ersten Albums: “Zangezur”, zu deutsch “Das Läuten war vergebens”, bezieht sich auf den Sabotageakt eines verräterischen armenischen Prinzen, der die Alarmglocken der Grenzregion abmontierte und so das Land den anrückenden Reitern preisgab.

Ob die Musikerin diesem Prinzen den Titel des Openers – “Why am I doing this?” – in den Mund legt? Man müsste den halb gemurmelten Sprechgesang verstehen, der allerdings so weit nach hinten gemischt wurde, dass er nur schemenhaft durch die kantigen Synthiebrocken dringt, die dem verquer hinkenden und dennoch kraftvollen Midtempo-Rhythmus das Fundament geben. Das schafft schon eher der folkige Klang einer Duduk oder eines ähnlich Schalmei-artigen Instruments, der wie ein florales Ornament die Ritzen ausfüllt. Interessanterweise stößt sich das keineswegs ab, und ein kurzes Affengelächter scheint einen für die Verwunderung zu verhöhnen. Schrille Schleifgeräusche künden von Fatalismus und Trockeneis.

Glücklicherweise ist Margenrot keineswegs auf kühle Monotonie begrenzt, und einige Stücke entpuppen sich aus ausgesprochen vielschichtig. “Lame Leading the Blind” scheint sich direkt auf den besagten Eroberer zu beziehen, denn Timor Leng bedeutet auf deutsch “Timor, der Lahme”. Titel und Musik allerdings entsprechen sich zumindest vom Tempo her kaum: Stück für Stück baucht sich der Track in forscher Dynamik auf, zu den Stakkatorhythmen kommt nach und nach alarmistisches Pfeiffen, rituelles Klappern, hektische Stahlgewitter und erneut betörende Melodiebögen auf dem armenischen Blasinstrument. Beeindruckend ist, wie die Musikerin es schafft, trotz dieser Opulenz immer einen etwas spartanische Eindruck zu wahren. “Ligatur”, ein kurzes kratziges Zwischenspiel, mischt an Philip Glass erinnernde Akkorde mit subtilem Noise, “Aghves”, das groovige “Halas W Samolocie” und der Titelsong, vielleicht die drei Herzstücke des Albums, mischen z.T. fast poppige Elektronik mit Raubtierknurren und allerlei weiteren brummenden und gluckernden Field recordings. Ganz bestimmt zieht irgendein Spezialist da den obligatorischen Vergleich mit Coil.

Ein kraftvolles und bei all der jugendlichen Frische überraschend durchdachtes Debüt hat die Künstlerin da auf die Beine gebracht, das fast durchgehend die stählerne Tanzfabrik mit den Schlachtfeldern eines mittelalterlichen Kaukausus überblendet. Da beide Regionen reich an dramatischen Ereignissen sind, sollte eine Fortsetzung des Konzeptes kein Problem darstellen. “Zangezur” ist neben der LP und dem Download – noch – als ultralimitiertes Tape zu haben. (U.S.)

Label: Klammklang / Akoazm