PHAROAH CHROMIUM: Jean Genet Quatre Heures à Chatila

Auf den ersten Blick erinnert Shatila nicht unbedingt an ein Flüchtlingslager im Nahen Osten. Es stehen dort keine Zelte und Bretterbuden, sondern drei- bis vierstöckige, wenn auch windschiefe Häuser, und wenn es nur darauf ankäme, könnte man es für ein weiteres Stadtviertel in den südlichen Vororten Beiruts halten, in denen es, wie oft in Ballungszentren, immer noch innenstädtisch zugeht.

Allerdings registriert man recht früh, v.a. wenn man auch in den umliegenden Bezirken zu Fuß unterwegs war, dass man durch einen kleinen Eingang gewissermaßen den Libanon verlassen und in dem palästinensischen Camp eine Welt für sich betreten hat. Die Menschen sind anders gekleidet, die Schilder und Wandmalereien wirken wie aus der Zeit gefallen, alles ist katakombenartig eng. Die verwinkelten Gassen mit ihren zahlreichen Läden sind mit Menschen und Motorrollern überfüllt, und im Unterschied zum restlichen Beirut sieht man kaum westlich aussehende Passanten. Trotz der offensichtlichen Armut und der geringen Perspektiven (den Geflüchteten und ihren Nachkommen steht keine Einbürgerung in Aussicht, Benachteiligung bei Arbeit- und Wohnungssuche außerhalb der Lager ist die Regel) strahlen die Bewohner eine Gelassenheit aus, die den Besucher dazu verleiten könnte, dem favelaartigen Charme des Ortes zu erliegen – eine nachvollziehbare, aber auch etwas ignorante Haltung, ist verklärender Exotismus dem Blick für die Situation doch eher abträglich.

Es gibt an diesem Ort auch mehr Kriegsruinen und vernarbte Hauswände als in den angrenzenden Gegenden. Während des libanesischen Bürerkriegs von 1975-90 war Shatila und das benachbarte Lager Sabra Schauplatz eines der schlimmsten Massaker des späten 20. Jahrhunderts. Der Krieg brach im Zuge des Konfliktes zwischen Israel und den Palästinensern aus, in den der Libanon durch die Präsenz der PLO auf seinem Territorium und israelische Angriffe hineingezogen wurde. Schnell bildeten sich meist auch durch religiöse Unterschiede markierte Parteien, die entweder den Israelis oder den Palästinensern die Verantwortung zuwiesen und zugleich um ihre Vorherrschaft im Land kämpften. Als 1982 der libanesische Präsident Baschir Gemayel, der den damals mehrheitlich mit Israel sympathisierenden christlichen Maroniten angehörte, einem Attentat zum Opfer fiel, überfiel die christliche Phalange-Miliz die beiden Camps in einem Racheangriff, da man die PLO für den Mord verantwortlich machte. Bei dem Angriff, den auch die israelische Militärpräsenz nicht verhinderte, kamen mehrere hundert Zivilisten ums Leben.

Nur wenige Tage nach dem Überfall besuchte der französische Schriftsteller Jean Genet den Ort und gab einen erschütternden Bericht über den zerstörten Ort, seine Toten und Überlebenden zu Protokoll. Genet setzte in seinem Bericht v.a. auf emotionale, atmosphärische Eindringlichkeit und vermochte durch seine Wortwahl und die Fähigkeit, seine Emotionalität nur leicht anklingen zu lassen, die desolate Situation wenn schon nicht erfahrbar, dann aber doch ahnbar zu machen. Die vorliegende 7″ des Pharoah Chromium-Kollektivs um Ghazi Barakat führt dieses Konzept quasi weiter und unterstreicht die Beklommenheit des Berichtes mit passenden auditiven Mitteln. Die beiden Tracks basieren auf von Schauspielerinnen rezitierten Textauszügen, untermalt von einer elektroakustischen Soundkollage.

Wenn Ellie Medeiros in “Une Photographie a Deux Dimensions…” im Stil eines ernsten, bitteren Radioberichtes aus dem Text liest und sich raue und klirrende Geräusche wie ein Mantel um den Vortrag legen, ist die Anspannung mit Händen greifbar. Man spürt das Unheil, das sich zusammenbraut, und obwohl film(musikal)ische Spannungsmittel wie Osman Arabis herumtastende Tonfolgen auf der Gitarre vorkommen, ist die Spannung alles andere als trivial, auch ohne Hintergrundwissen und ohne dass man jedes Wort versteht. “Saint Genet à Chatila”, das auf eine Monografie Sartres über den Autor anspielt, steigert die bedrückende Atomsphäre noch in verschiedene Richtungen, wirkt mit seinen klirrenden Melodien fast lieblich und vielleicht gerade dadurch noch aufwühlender. Der Kontrast zu den unruhigeren Hintergrundsounds und zum hier betont stoischen Vortrag tut dabei sein übriges. Ein plötzlicher Bruch, die immer mehr einem Strudel gleichenden Sounds und das atemlose Hecheln der zweiten Vokalistin Rahel Preisser reißen einen endgültig aus der Zuhörerrolle heraus und stoßen einen in ein Kabinett zerbrochener Spiegel, in dem jedes Deteil der retrofuturistischen Kakophonie sagt, dass dies kein Traum ist.

Wer von Pharoah Chromium mehr als die auf den beiden Tracks enthaltenen Auszüge zu dem Thema hören will, dem sei “Eros + Massacre” empfohlen, ein extensives Album, das bislang einzig als Download über Bandcamp zu haben ist. Dort kann auch die 7″ erworben werden. (U.S.)